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Wir wunschen gute Reise...

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TÜREN KNALLEN INS SCHLOSS. Wien, Westbahnhof, 11.39 Uhr. Der Lautsprecher sagt gerade sein Sprüchlein her. Ein letztes Händeschütteln, gute Ratschläge — dann pünktlich um 11.40 Uhr rolLt der „Transalpin“ aus dem Westbahnhof. Gleich einer blauen Schlange züngelt sich der „TS 13“, wie dieser internationale Triebwagenschnellzug in der Fachsprache heißt, zwischen den Signalanlagen und Masten aus dem Betonviereck des Westbahnhofes hinaus auf die freie Strecke. Auf dem Bahnsteig winken die Begleitenden mit ihren Taschentüchern ein letztes Lebewohl nach, die Taschentücher, die aus den Waggonfenstern dieses Lebewohl erwidern, erinnern aus der Ferne an Möwen. Dann ist der Zug aus dem Blickfeld verschwunden und mit ihm nicht selten auch schöne Stunden. Auf dem Bahnsteig trocknet der eine oder andere seine Träfien, verstaut das Taschentuch und geht mehr oder minder langsamen Schrittes, traurig, erfreut oder gleichgültig den Perron zurück.

Der Zug nimmt aber auf Gefühle und Stimmungen keine Rücksicht. Er eilt, von der unsichtbaren Peitsche des Fahrplans getrieben, seinem 831 Kilometer entfernten Ziel Zürich entgegen. Für elf Stunden und fünf Minuten — wenn es keine Verspätungen oder Verzögerungen gibt — sind hunderte Hände damit beschäftigt, gerade diesen einen Zug sicher über Österreichs Schienenstrang nach' dem Westen in clie Schweiz zu schleusen. Die Arbeit hinter den Kulissen, von der der da-hinsausende Fahrgast kaum eine Ahnung hat, ist gigantisch, gilt es doch in erster Linie die Sicherheit auf den Schienen zu gewährleisten. Ein einziger falscher Handgriff — und schon kann eine Katastrophe größten Ausmaßes passiert sein. Doch die Hände der unbekannten Eisenbahner arbeiten — nicht umsonst ist die Eisenbahn heute im Zeitalter der Düsenflugzeuge und schnellen Autos noch immer das sicherste Verkehrsmittel.

Bis ein Zug so weit ist, daß er aus der großen Maschinerie eines Bahnhofes ausfahren kann, muß viel Arbeit geleistet werden. Der Großstadtbahnhof ist ein riesiger Organismus, der nie zur Ruhe kommt. Nehmen wir Wiens repräsentativsten und für den internationalen Verkehr wichtigsten Bahnhof, den Westbahnhof. Um 0.25 Uhr rollt der letzte Zug aus dem Bahnsteig. Nach diesem Schnellzug verfällt der Bahnhof in einen scheinbaren Schlummer, um erst wieder vor vier Uhr zu-erwachen, wenn der erste Zug für seine Benutzer bereitsteht. Der Bahnhof ist über Nacht — oder besser gesagt — auf wenige Nachtstunden gesperrt, was sich als äußerst zweckmäßig erwiesen hat. Damit wurde nämlich den zur ständigen Staffage der Großstadtbahnhöfe gehörenden „Herumlungerern“ und „Strawanzern“ ein Nistplatz weggenommen, und sie haben sich — um einen ihrer Ausdrücke zu gebrauchen — „verzogen“. Die Sperre des Bahnhofes bedeutet aber nicht, daß Durchreisende die nächtlichen Stunden auf der Straße verbringen müssen. Für sie gibt es, vorausgesetzt sie haben eine gültige Fahrkarte, den Warteraum. *

IN DEN STUNDEN DES BAHNHOFSCHLUMMERS wird hinter den Mauern emsig gearbeitet. Es werden in der Nacht jene Züge fertiggemacht, die in den Morgen- oder Vormittagsstunden ihre Reise antreten. Der „Transalpin“ kommt um 21.40 Uhr aus Basel und Zürich in Wien an und wird, wenn alle Fahrgäste ausgestiegen sind, über Nacht gereinigt und überprüft. Eine Stunde vor Abfahrt wird er wieder in den Bahnhof eingeschoben und steht den Reisenden zur Verfügung.

Bei diesem Zug hat man mit dem Zusammenstellen nicht viel Mühe, es ist ja immer wieder die gleiche Garnitur, die die Strecke zwischen Wien und Basel befährt, ohne Kurswagen nach anderen Orten. Die Waggonfolge bleibt stets unverändert. Wesentlich komplizierter — für den Laien scheint es zumindest so — ist die Zusammenstellung eines internationalen Expreßzuges, bei dem an einzelnen Stationen die Kurswagen abgehängt werden, um an einen anderen Zug angeschlossen zu werden.

Bei internationalen Besprechungen werden jährlich die Kurswagen und ihr Lauf festgelegt, ja der ganze internationale Fahrplan aufgestellt und koordiniert. So kam es auch, daß im heurigen Fahrplan der „Arlberg-Expreß“ der bis vor einem Jahr noch Kurs wagen nach Budapest und Bukarest führte, heuer nur bis Wien fährt, während der „Wiener Walzer“ nun einen Kurswagen Basel—Bukarest über Wien führt. Diese Absprachen erstellen nun den Fahrplan, der von den einzelnen Bundesbahndirektionen im Detail ausgearbeitet wird. Auf Grund dieses Fahrplanes wird wiederum der Zug-bildplan erstellt, der zeigt, wie jeder einzelne Zug nach Wagen zusammengestellt werden muß. Dieser Zugbildplan geholt zum Um und Auf eines Ausgangsbahnhofes, da er den gesamten Verschub im Bereich des Personenverkehrs bestimmt.

VERANTWORTLICH FÜR DEN VERSCHUB ist der Versehubmeister. Auf Grund der Unterlagen weiß er genau, was zu tun ist und wie jeder Zug zusammengesetzt werden muß. Er wählt die Waggons aus und läßt überprüfen, ob sie fahrtechnisch auch in Ordnung sind, ob die Heizung funktioniert und ob nicht doch irgendwo ein kleiner Fehler sitzt, der, wenn nicht gerade verhängnisvoll so doch den Reisenden unangenehm werden kann. Steht einmal fest, welche Wagen den Zug bilden, dann werden sie ge-.kuppelt, luftgekuppelt und die Übergänge, die Faltenbälge, geschlossen. Auch die elektrischen Verbindungen zwischen den einzelnen Waggons werden hergestellt. Der Wagensatz ist nun soweit fertig und wird der Reinigung zugeführt. Ist das geschehen, so kommt die Kleinarbeit. Die Toiletten bekommen Papier und Papierhandtücher, in die Wasserspeicher wird Waschwasser gefüllt. Schließlich wird auch nicht auf den Seifenbehälter vergessen. Und um Reisenden, die keine Lektüre mehr haben, die Zeit zu verkürzen, legt man in jedes Abteil ein Monatsheft des österreichischen Fremdenverkehrs. Der Zug wäre nun reisefertig, muß aber warten, bis seine Zeit gekommen ist. Seine Zeit, das heißt in der Regel sechzig Minuten vor Abfahrt, bei Kältegraden neunzig Minuten, wird er auf den Bahnsteig eingeschoben.

DIE ZUSAMMENSTELLUNG DES „WIENER WALZERS“ ist allerdings etwas komplizierter als die Abfertigung des „Transalpin“. In Wien fährt der „Wiener Walzer“ um 20 Uhr ab. So steht er also um 19 Uhr schon im Bahnhof. Um 19.20 Uhr kommt, mit oder ohne Verspätung, der Bukarest-Budapest-Teil und wird an den schon dastehenden Zug angeschlossen, gereinigt und überprüft, da die Waggons ja fast 22 Stunden unterwegs waren. In der Regel sind es ein Schlafwagen und ein Wagen erster und zweiter Klasse. Einige Leute steigen hier aus, für sie ist Wien „Endstation“ der Reise, andere unterbrechen für einen kurzen Aufenthalt die Weiterfahrt. Manche fahren nach Frankreich — in Basel finden sie den Anschlußzug — oder in die Schweiz; einige sind darunter, die über Calais nach London reisen. ' 1

Während die Waggons gereinigt werden, hat man Gelegenheit, die Reisenden etwas unter die Lupe zu nehmen. Es sind nicht viele, die aus dem „Paradies“ hinter dem Eisernen Vorhang den Weg in die freie Welt antreten können. Fast immer sind es Diplomaten und Geschäftsleute. In der zweiten Klasse sieht man hie und da ein altes Mutterl, das die anstrengende Reise auf sich nimmt, um Kinder oder Verwandte, die im Westen leben, zu besuchen. Und man sieht auch Gesellschaftsreisende, die aus dem Ostblock, ideologisch geschult, in ihre westliche Heimat zurückkehren, um - dort mit neuer Kraft den Kommunismus zu säen. Ja, und auch sie gibt es wieder: Touristen, die das ehemalige Klein-Paris, Budapest, bewundern wollen, oder sich in Bukarest oder Curtici ein paar Tage herumschlagen. Für all diese Gattungen von Reisenden genügen die beiden Waggons, die nur in den selr tensten Fällen voll besetzt sind. In den Sommermonaten ist die Frequenz ja befriedigend, aber im Winter kann man den Reiseverkehr nach Ungarn und Rumänien eher als dürftig bezeichnen.

DER GRÖSSTE BAHNHOF IST DER SÜD-OST-BAHNHCF, was die Abfertigung von Zügen anbelangt, und nicht der Wesrbahrrbof Wochentags fahren

vom Südbahnhof 144 Züge ab, vom Ostbahnhof 74, also insgesamt 188. Sonntags verkehren „nur“ 166 Züge, die ankommen und wieder abfahren. Der Westbahnhof hingegen ist ein typischer Fernreisebahnhof, der weniger dem Berufsfahrerverkehr dient. Wochentags kommen 42 Reisezüge an und fahren ebenso viele auch wieder ab, an Sonntagen erhöht ich die Frequenz.

Damit soll aber der Südbahnhof nicht auf ein Nebengeleise geschoben werden, denn auch er dient — wenn auch in etwas bescheidenerem Maße — dem internationalen Verkehr, fahren doch einige Expreßzüge vom Südbahnhof ab; einer von ihnen führt sogar Kurswagen Moskau—IJom.

DER WESTBAHNHOF IST EINE EIGENE STADT FÜR SICH. 1400 Mann arbeiten hier, um die Verbindung mit der weiten Welt herzustellen. Diese Mannschaft stellt aber noch nicht das gesamte Personal des Westbahnhofes dar; es gibt außerdem noch „Einheiten“ für Bau- und Bahnerhaltung, die Signalstreckenleitung, die Reparaturwerkstätten und die Zugsförderung. Auch im Fahrpark gibt es eine gewisse Unterteilung: die Eisenbahnwagen unterstehen dem Bahnhofsvorstand, während die Elektro- und Diesellokomotiven sozusagen ein autonomes Gebiet des Bahnhofwesens darstellen. Dies ist um so verständlicher, da der Westbahnhof gleichzeitig Heimatbahnhof aller auf der Westbahnstrecke verkehrenden Maschinen ist. Hier werden sie ständig überprüft, repariert und betreut.

Der Zug rollt aus dem Bahnsteig -der Zug fährt ein: Zweiundvierzig-mal pro Tag wiederholt sich dieses „Zeremoniell“, das so automatisch wie nur möglich geworden ist. Das einzig Menschliche an der Abfahrt ist das Sprüchlein „Wir wünschen gute Reise!“, alles andere läßt den Reisenden wissen, daß er Fracht ist, Fracht, die zu einem festgelegten Tarif entweder erster oder zweiter Klasse befördert wird. Diese „Fracht“ beträgt im Jahresdurchschnitt am Westbahnhof rund 28.000, an Sonn- und Feiertagen rund 33.000 Ankommende und Abreisende.

AUF DEM BAHNSTEIG HERRSCHT GESCHÄFTIGES LEBEN. Die Schaffner gehen in die ihnen zugeteilten Abteile und überzeugen sich nochmals, ob wirklich alles in Ordnung ist und überprüfen die Platzreservierungen. Inzwischen errechnet der Zugsführer, der die Zugsmannschaft „befehligt“, — nicht zu verwechseln mit dem Mann, der die Lokomotive führt —, an Hand von Papieren das Geweht des Zuges und erledigt den üblichen .infallenden Papierkram.

Beim stehenden Zug wird außerdem die „große Bremsprobe“ gemacht. Die 'Wagenmeister hängen den Zug an die Bremsprüfanlage. Bei Kältegraden werden die Waggons auch an die Vorheizanlage angeschlossen. Sind die Luftbehälter der Wagen voll, sehen die Wagenmeister nach, ob bei Betätigung der durchgehenden Bremse die Bremsklötze der einzelnen Waggons auch gleichzeitig und gleichmäßig an den Radreifen anlegen und sich ebenso lösen. Mit dieser Bremsprobe hängt auch das Lichterspiel zusammen, das sich auf den Ampeln, die vom Bahnsteigdach herabhängen, vollzieht und angesichts dessen sich viele Reisende wohl schon nach dem Grund gefragt haben. Ein weißes Licht bedeutet „Bremse anlegen“, das zweite „Bremse lösen“ und das dritte Licht besagt, daß die Bremsen in Ordnung sind. Acht Minuten vor Abfahrt rollt die schwere Elektrolok an den Zug, wird angekoppelt, und die letzte Prüfung, die „kleine Bremsprobe“, erfolgt. Drei Minuten vor Abfahrt erscheint der Fahrdienstleiter auf dem Bahnsteig — der grüne Befehlsstab wurde mit dem Blinklicht auf Großbahnhöfen abgeschafft — und macht die allerletzte Kontrolle.

Die Schaffner helfen nicht nur ein paar Nachzüglern, in ihre Wagen zu kommen, sondern einer eilt sogar noch um Zeitung und Zigaretten, dann rutscht der große Zeiger der Bahn-steiguhr auf jene Minutenmarke, laut welcher der Zug fahrplanmäßig aus dem Bahnhof rollen muß. Die Türen sind schon geschlossen, der Lautsprecher wünscht in drei Sprachen gute Reise, und dort, wo die drei weiß-gelben Lichter die Bremsprobe anzeigten, blinkt jetzt ein grünes, das dem Zug den Weg in die Ferne freigibt...

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