VABANQUE an der Grenze
Die Umgehung Ungarns wird für Migranten zu einem bizarren Verwirrspiel. Der Stau in Kroatien entzerrt sich nur langsam. Lokal-Augenschein.
Die Umgehung Ungarns wird für Migranten zu einem bizarren Verwirrspiel. Der Stau in Kroatien entzerrt sich nur langsam. Lokal-Augenschein.
So sieht das also aus, wenn in ein erstarrtes Nadelöhr endlich Bewegung kommt. Eine Nacht Ende September, halb eins, und die Menschenschlange zieht sich mehrere Hundert Meter über die Zufahrtsstrasse zum Bahnhof von Tovarnik. Sobald ein Bus vorfährt, füllt er sich innerhalb von Minuten, und wenn er weg ist, kommt bald schon der nächste. Ein, höchstens zwei Gepäckstücke haben die meisten bei sich, einen Rucksack oder eine Tüte oder beides. Einige kleine Kinder stehen in der Reihe, und so mancher hier konnte eines der Regencapes ergattern, die die Helfer schnell organisierten. Am Horizont wetterleuchtet es noch. Das Gewitter hat der Hitze der letzten Tage ein Ende gemacht.
Am nächsten Tag wird im nahen Opatovac ein offizielles Auffanglager eröffnet. In dieser Nacht aber halten sich rund 1200 Migranten noch im inoffiziellen Camp auf, betrieben von Freiwilligen und der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. In Zelten und auf Isomatten oder Decken campieren sie um die alte Fabrik herum und entlang des Weges. Auf einer Wiese steht ein Zelt für Essensausgabe, eins für Material und eins für medizinische Versorgung. Ein Wasserschlauch und Toilettenhäuschen hinter den Fabrik-Silos schaffen den schlimmsten sanitären Problemen Abhilfe.
Europäische Konfusionen
Das informelle Flüchtlingscamp ist das Ergebnis einer umfassenden Konfusion, nachdem Ungarn Mitte September seine Grenze zu Serbien schloss. Die Migranten wichen nach Kroatien aus, mehr als 30.000 in einer Woche, wo man sie zunächst gewähren ließ, dann aufhielt und seither die Grenzen in undurchsichtigen Abständen öffnet und schließt. In Bussen werden Neuankömmlinge dann an die ungarische Grenze gebracht, von dort per Zug weiter nach Österreich. Zugleich begann die Orban-Regierung, neben dem Zaun an der serbischen und rumänischen Seite auch einen Richtung Kroatien zu bauen.
Für Juul, einen syrischen Christen aus Sadnaya, sind das Geschichten aus einer anderen Welt. Er gehörte zu den letzten, die vor zwei Tagen einfach so hier ankamen, in einem Bus aus Belgrad an die Grenze und dann weiter zu Fuß. Die Polizei registrierte die Migranten, danach strandeten sie erst einmal in Tovarnik. Und Juul, der Hotelrezeptionist, der nun auf dem Boden hockt und eine Zigarette raucht, erfuhr nicht mehr, als dass es jetzt irgendein Problem in Kroatien gebe. Was für ein Fortschritt ist es dagegen, in dieser Reihe zu stehen und zu warten, bis es nun bald weitergeht, "vielleicht in drei Stunden". Selbst wenn die Polizisten keinerlei Angabe über das Ziel machen.
Paradox ist das: Tagelang besuchten internationale Medien dieses Dorf von zweieinhalb Tausend Einwohnern und machen es zu einem der fettgedruckten Orte auf der neuen Landkarte der migrantischen Geographie Südosteuropas, die man im Westen bislang kaum kannte. Diejenigen aber, um die es geht, verstehen die Zusammenhänge nicht, die für ihr Vorwärtskommen oder Steckenbleiben den Ausschlag geben. "Es kommt mir vor", sagt ein anderer Syrer in Tovarnik, "als gebe es einen Wettbewerb zwischen den Ländern: wir sind besser als ihr, wir lassen die Flüchtlinge weiterziehen."
Gegen halb drei hat sich die Warteschlange auf den Boden begeben und erwartet dort den nächsten Morgen, wenngleich ohne feste Information über einen weiteren Transport. Dicht aneinander gedrängt liegt es sich ein wenig wärmer, einige sind auch im Sitzen eingeschlafen. Wer noch wach ist, wird von Freiwilligen mit Keksen und Datteln bedacht. Im Essenszelt auf der Wiese gibt es noch Obst, Baguette und Biscuit. "Kannst du eine Decke und eine Isomatte auftreiben, wir haben hier eine schwangere Frau", fragt ein Helfer einen Kollegen. Wieviele hier anpacken, weiß niemand, aber so volatil die Krise in diesen Tagen ist, so verlässlich steuert der internationale Treck ihre neuralgischen Punkte an: Röszke und Horgos, das Zeltlager in Belgrad, Tovarnik.
Aus dem ungarischen Pécs sind am Abend 12 Medizinstudenten angekommen. Darunter ist auch Benedikt Kleinsässer, 23. Die nächsten Wochenenden hat er auch schon eingeplant. Erschwert wird im Übrigen auch die Anreise der Helfer, die wegen geschlossener Grenzen zum Teil lange Umwege fahren müssen. Sorgen macht ihm nicht zuletzt eine klimatische Besonderheit: es ist in diesem Teil von Europa lange warm. Aber dann wird es plötzlich sehr kalt. In ein paar Wochen wird das der Fall sein."
Zwischen Müllsäcken
Weit hinter der Fabrik, am Ende des Weges, beginnt der zweite Teil des Camps, gegen den sich der erste in all seinem Elend fast idyllisch ausnimmt. Ein Zelt steht zwischen Müllsäcken und einem Polizei-Mannschaftswagen, davor finden sich Müll, ein Paar Schuhe und eine Feuerstelle. Entlang der Schienenstränge ziehen sich viele weitere niedrige Zelte am Bahnhofsgebäude vorbei bis zu einem Schuppen. Längst nicht allen, die hier Zuflucht suchen, bietet er Platz, und so liegen schlafende Gestalten dicht gedrängt auf einer schmalen, vorgelagerten Betonreling.
Auch auf und zwischen den Schienen haben sich Menschen ausgestreckt, mitten in den groben, spitzen Steinen. Hier und da brennt ein Feuer. Die grellen Lichtmasten lassen die Szenerie gespenstisch erscheinen.
Vor dem Schild, das den Bahnhof Tovarnik ankündigt, wehen eine kroatische und eine EU-Fahne - wie ein sarkastischer Verweis darauf, dass die Länder entlang der Balkanroute sich zuletzt gegenseitig vorwarfen, mit einer entgegenkommenden Behandlung der Migranten in Brüssel gutes Wetter machen zu wollen - für ihre angestrebte Mitgliedschaft in der EU.
Unterdessen ist spät in der Nacht eine Gruppe Neuankömmlinge eingetroffen. Sie bestätigen ein Gerücht, das zuvor schon die Runde machte: die grüne Grenze nach Serbien, knapp zwei Kilometer entfernt und am Abend noch unpassierbar, soll geöffnet worden sein. Essensstand und Deckenausgabe sind umgehend betriebsbereit. Auf den freien Plätzen zwischen den Schlafenden werden kurz vor der Dämmerung noch ein paar neue Zelte aufgestellt.
Gegen sechs Uhr zeigt der Himmel über dem Bahnhof von Tovarnik erste Konturen. Für die beiden Freunde aus Erbil, die eben aus Serbien ankamen, ist es schon die zweite Nacht hintereinander, in der sie nicht geschlafen haben. "Wenn ich die Augen zumache, liege ich sofort hier auf den Schienen", sagt einer. "Aber dann verpasse ich den Zug." Den haben die Polizisten für neun Uhr angekündigt. Ob er nach Slowenien fährt oder nach Ungarn, wissen sie nicht. Klar ist: dahinter liegt "Nemsa", wie die Syrer und Iraker Österreich nennen.
Sobald es hell ist, beginnt um die Fabrik und entlang der Schienen das Packen. Ein neuer Tag, eine neue Etappe, ein neuer Versuch im Vabanquespiel, sich einen Weg durch den Irrgarten sich öffnender und schließender Grenzen zu bahnen. Aber am Vormittag lassen sich weder ein Bus noch der Zug blicken. Ein Syrer, fertig zum Aufbruch, übt sich in Geduld. "Es ist nicht so, dass wir nicht dankbar sind. Wir bekommen Essen und ein Dach über dem Kopf." Das 'aber' schwingt in der Stimme mit und bleibt in zwei gedehnten Mundwinkeln hängen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!