Kälterbus

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Wenn das politisch-soziale Klima abkühlt, wird die Arbeit von NGOs wie der Caritas nicht einfacher. Dafür entscheidender. Auf Tour mit den Streetworkern vom Kältebus.

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Wenn das politisch-soziale Klima abkühlt, wird die Arbeit von NGOs wie der Caritas nicht einfacher. Dafür entscheidender. Auf Tour mit den Streetworkern vom Kältebus.

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Der Winter war ungewöhnlich warm. Der Februar einer der wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen, sagen die Meteorologen. Seit Mitte des Monats hatte es kaum unter zehn Grad in der Hauptstadt, am frühen Nachmittag auch schon mal 21. Und an diesem sonnigen Tag Anfang März sitzen die jungen Menschen in der Mariahilfer Straße in T-Shirts auf Parkbänken. Der Aufdruck auf dem weißen VW-Bus wirkt da wie ein Missverständnis: "Kältebus" steht auf der Schiebetür des Transporters, der in der engen Einfahrt ums Eck von Wiens wichtigster Einkaufsstraße parkt. Doch der Eindruck täuscht. Denn die Probleme, derentwegen die Sozialarbeiter mit ihrem Bus täglich ausrücken, haben nur zu einem Teil mit kalten Temperaturen zu tun. Und zu einem weiteren mit ganz anderen, völlig verschiedenen Dingen.

"Das Leben auf der Straße ist generell ziemlich ungesund", sagt Susanne Peter, schwarze Kunststoff-Brille, rote Caritas-Jacke, dezenter Wiener Zungenschlag. Die rote Jacke trägt sie normalerweise nicht, wenn sie auf Tour geht. Nur heute, wo ein Journalist und eine Fotografin mit dabei sind, wollen die Streetworker für die Menschen, die sie treffen, gleich erkennbar sein. Peter ist leitende Sozialarbeiterin der Gruft, der wohl bekanntesten Sozialeinrichtung Wiens. Während in der verkehrsberuhigten "Hüfa" die Passanten mit den Einkaufstaschen der großen Modeketten in die Schaufenster des gigantischen Freiluft-Shoppingcenters lugen, kommen ein paar Dutzend Meter entfernt in die Barnabitengasse jene, die sich in nächster Zeit eher keine neuen Frühlingskollektionen kaufen werden.

Eine Wärmestube und eine Notschlafstelle gehören zur Gruft. Es gibt warmes Essen und man kann nach Tagen auf der Straße hierher kommen, um zu duschen und sich ein wenig frische Kleidung abzuholen. Dazu gibt es ein Betreuungsnetz aus Sozialarbeitern, Psychiaterinnen und Therapeuten. Und es gibt die beiden Kältebusse, die von Anfang November bis Ende April täglich zu mehrstündigen Touren in die Abenddämmerung aufbrechen -mit je einem Mitarbeiter der Gruft an Lenkrad und Beifahrersitz. Sie fahren zu den Menschen, die draußen schlafen.

Für die Streetworker vom Kältebus soll nichts Schlimmeres passieren als ein warmer Winter. Nicht, dass sie dann weniger zu tun hätten. Aber die Zahl der Anrufe am Kältetelefon wird bei milder Witterung geringer - so wie die Tragweite ihrer Entscheidungen. "Wenn wir damals nicht früher als geplant zu einem Mann im Resselpark gefahren wären, wäre er erfroren", sagt Gerald Lamprecht, zusammengebundene Haare, Ballonmütze, angenehm entspannte Art. Der 34-jährige Sozialarbeiter ist heute mit Susanne Peter im Kältebus unterwegs. "Manchmal gilt: Zwei Tage später und es ist vorbei", sagt sie. Bei der Tour an diesem Abend wird es nicht darumgehen, Menschen vor dem Erfrieren zu retten. Obwohl das auf der Straße auch bei höheren Temperaturen noch passieren kann. Aber die Mitarbeiter des Kältebusses machen deutlich mehr, als warme Schlafsäcke an obdachlose Menschen zu verteilen. Sie sprechen mit ihnen, beobachtend statt bewertend - so wie Sozialarbeiter das eben tun. Sie bauen Beziehungen auf. Sie achten ganz nebenbei auf äußere Zeichen von Gesundheitsproblemen. Den Handschlag bei der Verabschiedung halten sie etwas länger, um die Körpertemperatur ihres Gegenübers einzuschätzen. Und sie dokumentieren, was sie auf ihren Touren erlebt haben, wo obdachlose Menschen sich aufhalten -und ob sie ihren Schlafplatz geändert haben.

Schlafen mit einem Auge offen

"Was wir machen, ist nachgehende Betreuung", sagt Peter und wuchtet den roten Erste-Hilfe-Rucksack in den vollgeräumten Kofferraum des Busses. Manche der Klienten -so sagt man meist in der Sozialarbeit, auch wenn der Begriff nicht unumstritten ist -kennt Peter schon seit mehr als 30 Jahren. Und mit ihnen ihre Lebensgeschichten. Auch im Kofferraum des Kältebusses: Warme Fleecedecken. Kisten mit Hauben und Handschuhen, Schals und Socken. Konservendosen, Kekse, Schokolade.

Es geht los. Raus aus dem Innenhof der Gruft, vorbei am Haus des Meeres und über Ring und Lände weiter Richtung Norden. Erste Station: Donauinsel. Hier ist es ruhiger als in der Stadt und die vielen Wälder und Gebüsche bieten abgeschiedene Schlafplätze. Aber: Es zieht. Über die unverbauten Freiflächen zwischen der Brigittenau und Transdanubien peitscht ein eisiger Wind. Und die Temperaturen sind spürbar kälter als zwischen den Ziegelund Betonwällen der Innenstadt-Bezirke.

Die Sozialarbeiter gehen voran in ein kleines Waldstück. Durch dichtes Gestrüpp, über Wurzeln und Steine, vorbei an geöffneten Bauzäunen und zur Seite schnellenden Ästen. Den Weg weisen die Lichtkegel der Taschenlampen. Ein wenig wie in den Polizei-Dokus im Privatfernsehen. "Das war der Biber", sagt Lamprecht, deutet auf einen umgeknickten Baumstamm und lacht. "Beim letzten Mal war da irgendwie noch mehr Wald." Nach wenigen Schritten dann ein kleines Zelt. Violettblaue Hülle, Platz für eine Person. "Hallo? Ist jemand da?", ruft Susanne Peter schon aus einigen Metern Abstand. Keine Antwort. Die Sozialarbeiter machen bei ihren Besuchen schon von Weitem auf sich aufmerksam. Denn plötzlich vor der Isomatte von jemandem ohne Dach über dem Kopf zu stehen, das ist ein bisschen wie der unangekündigte Überraschungsbesuch eines Fremden im heimischen Schlafzimmer. "Obdachlose Menschen", sagt Susanne Peter, "schlafen mit einem Auge offen".

"Der ist schon ganz gelb im Gesicht"

Diesmal ist das Schlafzimmer unbelegt. Im Inneren des Zelts eine Campingliege, auf ihr ein warmer Schlafsack und eine dünne Decke. Am Boden abgepacktes Weißbrot, Tomatensugo und ein paar Limonadenflaschen der Discount-Marke einer Supermarktkette. Vor dem Zelt eine improvisierte Kochgelegenheit, Feuerzeuge und Zigarettenstummel. "Wie lang hält so ein Zitronenkuchen, wenn er offen ist?", fragt Peter und hebt eine angebrochene Packung auf. Der Schluss aus dem Mindesthaltbarkeitsdatum: Es kann noch nicht lange her sein, dass jemand hier geschlafen hat.

Warum es wichtig ist, dass die Mitarbeiter des Kältebusses Schlafplätze wiederholt ansteuern, auch wenn sie öfters niemanden antreffen, illustrieren die Geschichten, die sie erzählen. Denn immer wieder bringen sie Menschen mit ihrem Bus in Notquartiere. Bei schweren gesundheitlichen Problemen rufen sie die Rettung - und retten so mitunter Menschenleben. Aber manchmal kommt trotz des Einsatzes jede Hilfe zu spät. Etwa einmal, als ein Anrufer sich beim Kältetelefon meldete und besorgt von einem Obdachlosen berichtete. "Der ist schon ganz gelb im Gesicht", habe der Anrufer gesagt. Die Rettung kam.

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