7014154-1988_20_07.jpg
Digital In Arbeit

Geborgenheit in einer Wiener Gruft

19451960198020002020

Ort der Handlung: Wien. Sie klopfen fast überall an, aber nur selten öffnet man ihnen. Ein Mensch hört auf, ein Mitmensch zu sein. 10.000 Obdachlose soll es allein in Wien geben.

19451960198020002020

Ort der Handlung: Wien. Sie klopfen fast überall an, aber nur selten öffnet man ihnen. Ein Mensch hört auf, ein Mitmensch zu sein. 10.000 Obdachlose soll es allein in Wien geben.

Werbung
Werbung
Werbung

„Sandler“ nennt man sie in der alten Kaiserstadt. „Nicht-Seßhafte“ ist die amtliche Bezeichnung. „Asoziale“ in der Vorstellung der Öffentlichkeit. Menschlicher Müll in Wahrheit. Sprachspielereien im Bereich der Trostlosigkeit.

Eine Szene: U-Bahn-Bereich Karlsplatz. Rendezvous-Platzerl der einen, zeitloser Treff der anderen. Sie sind nicht zu übersehen, die anderen. Abgerissen, unfrisiert, behaftet mit der Grauzone der Sauberkeit und bestückt mit Plastiktüten, worin sich die ganze Habe befindet. Obdachlose. Eine Flasche kreist. Billiger Rotwein. Die vom Leben gezeichne-

ten Gesichter sind gerötet. Der Schmäh rennt. Eine der vielen Uberlebensphasen.

Bis zu zehntausend solcher Gezeichneten soll es in Wien geben. Die Dunkelziffer schwankt. Erfaßt sind nur jene, die sich bei der „Nicht-Seßhaften-Meldestelle“ der Polizei melden. Die anderen kennt man nicht. Warum? Keine Papiere. Aber es gibt auch andere Gründe: das Fahndungsbuch der Sicherheitsbehörde. Geldbuße für Schwarzfahren, unerlaubte Nächtigung in Abbruchhäusern oder Schlimmeres. Im Nichtein-bringungsf all Haft.

Woher sie kommen? Die überwiegende Mehrheit kommt aus den Bundesländern, und da rangieren das Waldviertel und die Steiermark an erster Stelle.

Ein Leben ohne Hoffnung? Schwer zu sagen. Die Labilität der Gezeichneten ist erschreckend. Erschreckend aber auch, daß immer mehr junge Menschen in diesen Strudel der Zeit hineingerissen werden.

Vielfach durch eigene Schuld, was keiner von ihnen—wenn man über die Ausrede zum Kern der Wahrheit kommt—bestreitet. Resignation, dokumentiert durch den Satz: „Wir sind eben der menschliche Müll dieser Welt.“

Der Staat hilft. Die Stadt hilft. Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Also helfen auch Freiwillige. Das Makabre geht oft ins Absurde. Ganz unten, da wo es von der Hoffnungslosigkeit bis zur Selbstaufgabe nur noch ein kleiner Schritt ist, da hat es in Wien-Mariahilf begonnen: in der „Gruft“ der altehrwürdigen Haydn-Kirche.

Dort kniete Kaiserin Maria-Theresia als Büßerin, und dort ist heute der Salvatorianer-Pater Albert Gabriel, der Pfarrer. Ein Priester, der die Zeit versteht. Er hatte die Idee, die Gruft unterhalb des Gotteshauses der Obdachlosigkeit zu widmen.

Der Start: Wärmestube, Tee und Schmalzbrot. Frequenz: 100 bis 150 Obdachlose täglich. Dem Aufruf ihres Pfarrers folgend, nahmen Frauen die Last der Betreuung auf sich. Darunter auch Hannelore Bleibtreu. Ehemals Krankenschwester.

Heute ist sie Pfarrgemeinderä-tin, Seele und Motor jenes Sozialwerks, dem Caritas-Chef Leopold Ungar, im Beisein des Provinzials der Salvatorianer und vieler Ehrengäste und noch mehr Obdachloser, sein Segensgebet widmete.

Das war vor einigen Tagen, denn die „Gruft“ ist übersiedelt. Nur ein paar Treppen tiefer. Den Pesttoten des mittelalterlichen Wiens, die hier hinter dicken Mauern ruhen, näher. Wo früher

Grauen und Finsternis herrschten, ist jetzt Wärme, Geborgenheit und Menschlichkeit.

Erst vor sechs Monaten wurde der große Schritt gewagt. Auch das finanzielle Abenteuer. Aber die Not war bestimmend. Erdarbeiten, Installationen, das Errichten von Zwischenwänden und vieles andere mehr passierte. Unter den Helfern: die Obdachlosen selbst.

Jetzt gibt es Toiletten, Duschen, einen Umkleideraum, Küche und Kleiderkammer. Dazu eine Waschmaschine und einen Trockner. Hannelore Bleibtreu: „Wer im Dreck leben muß, wird selbst zum Dreck. Wenn man einem Obdachlosen helfen will, so muß man versuchen, sein Selbstwertgefühl zu erhalten, und genau das versuchen wir.“

Kommentar eines Obdachlosen: „Wir kennen alle Schnalzn (Hilfsstellen) in Wien, aber das hier ist die beste.“ „Warum?“ „Weü wir hier als normale Menschen behandelt werden. Niemand verlangt von uns ein Gebet, nicht einmal das sonst gerngehörte „Vergelt's Gott“ will man hier wahrnehmen. Trotzdem wissen wir, daß es Christen sind, die uns zur Seite stehen.

Wenn wir Probleme haben, können wir uns ohne Anmeldung aussprechen. Die Leute hier können nur kleine Schritte tun, aber diese sind für viele von uns wertvoll. Das ist wirkungsvoller als ein großes Plakat.“

Was sind die kleinen Schritte? Hannelore Bleibtreu: „Allein den

Hunger zu stillen, ist schon eine Aufgabe. Doch dazu kommt, die Beschaffung von Personalpapieren, die Besorgung von Unterkünften, kleine finanzielle Hilfestellungen, das Bemühen um Arbeitsplätze, Interventionen bei Sozialämtern und Gerichten sowie der immerwährende Versuch, den Betroffenen klarzumachen, daß es auch einen Ausweg aus diesen menschlichen Niederungen geben kann. Vorausgesetzt, daß sich der Obdachlose auch selbst um so einen Ausweg bemüht.“

Erfolge? So hat dieses noch junge Hilfswerk bereits zwei Kleinwohnungen angemietet, wo die Obdachlosen das Wohnen lernen sollen, was nach oft fünf Jahren Dasein unter Brücken, auf der Donauinsel, Nächtigen in öffentlichen Toiletten oder in abgestellten Waggons der Bundesbahn keine ganz so einfache Sache ist.

„Wir haben einigen jüngeren Obdachlosen Arbeitsplätze beschaffen können, und die Arbeitgeber sind zufrieden. Leute, die ihre eigene Labilität erkannt haben, bringen uns das Geld der Sozialfürsorge zur Aufbewahrung, weil sie um die Gefahr wissen, wie schnell dieses Geld, im Beisein von sogenannten Freunden, in Alkohol umgesetzt werden kann.

Von diesem Geld besorgen wir den Betroffenen zum Beispiel die Monatskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel, damit sich das Schwarzfahren und die nachfolgende Kriminalisierung aufhört. Das aber sind nur einige Beispiele

aus der großen und zeitaufwendigen Palette unseres Alltags.“

So hat auch niemand die Stunden gezählt, die Hannelore Bleibtreu und ihre Helfer diesem Werk gewidmet haben. Es sind viele. Sehr viele.

Ohne einen Groschen hatte man begonnen. Allein der Antonius-Opferstock in der Kirche war die finanzielle Basis. Größere Spenden kamen erst später. Uber weite Strecken allein half nur der Glaube.

Das Werk, begründet auf festem christlichen Boden, steht. Aber die Aufgaben werden immer mehr. Soziale Tätigkeit entwik-kelt eine Eigendynamik. Hannelore Bleibtreu dazu: „Alle, die uns geholfen haben, die Caritas, der Orden der Salvatorianer, die Vinzenzgemeinschaft, der Orden St. John of Jerusalem, also alle, die das Wort Christi als verpflichtende Wahrheit betrachten, sie werden uns auch weiter helfen. Trotzdem brauchen wir Geld. Denn jeder Obdachlose, den wir von der Straße wegbringen, der erspart auch dem Steuerzahler Unsummen.“

Geldspenden für das Obdachlosen-Hilfswerk in der Pfarre Mariahilf: Erste österr. Spar-Casse, Kontonummer: 028-35495.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung