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In den Straßen von San Francisco

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Zwischen 6.000 und 16.000 Menschen sind in der nur knapp 800.000 Einwohner zählenden kalifornischen Stadt San Francisco obdachlos. Es handelt sich dabei lediglich um Schätzungen, um Erfahrungswerte von jenen Organisationen und Vereinigungen, die für die Obdachlosen da sind. Immer öfter finden sich auch Frauen und Jugendliche auf der Straße. Bereits zwölf bis 15 Prozent Frauen leben in den Straßen von San Francisco sowie zwischen 1.200 und 2.000 Jugendliche. 33 Prozent sind ehemalige Vietnam-Kämpfer, sie werden in den USA „Vets" genannt, ganze 30 Prozent sind Familien. Obdachlose sind nicht Menschen ohne Bildung: 21,4 Prozent haben ein College absolviert.

„Ausschlaggebend für das enorme Ansteigen der Obdachlosen-Zahlen ist zum einen die Sozialpolitik der Republikaner, zum anderen sind es die enorm gestiegenen Wohnungspreise", berichtet Charlene Tschirhart, Direktorin der St. Anthony Foundation, einer seit 45 Jahren bestehenden kirchlichen Hilfsorganisation, die sich neben Drogenabhängigen und alten Menschen auch um Obdachlose kümmert. Mit der Obdachlosigkeit einher geht auch noch eine Anzahl gesundheitlicher Probleme. Viele Obdachlose auf der Straße sterben nicht, weil sie erfroren sind, sondern aufi grund von Dehydration weil sie Alkoholiker sind. 19 Prozent der Obdachlosen, so die Zahlen der St. Anthony Foundation, sind exzessive Alkoholiker, nachdem sie ein bis fünf Jahre auf der Straße verbracht haben, elf Prozent nehmen Drogen. Stark verbreitet sind auch Geisteskrankheiten, die oft erst mit der Obdachlosigkeit beginnen. Diese Geisteskrankheiten sind ähnlich dem „posttraumatischen Streßsyndrom", das oft bei Flüchtlingen oder ehemaligen Kriegsteilnehmern festzustellen ist.

Viele Familien sind in den letzten zwei Jahrzehnten in andere Teile der Bay Area gezogen, da sie sich das Leben in der Stadt nicht länger leisten konnten. Als direkte Folge der Rea-ganschen „Sozialpolitik" — was soviel bedeutet wie die Kürzung der Wohn-bauprogramme, die Ausdünnung des sozialen Netzes und die Schließung psychiatrischer Einrichtungen - fanden sich immer häufiger Menschen auf der Straße wieder.

„Was obdachlose Familien hauptsächlich brauchen, ist ein geregelter Tagesablauf", so Father David Lowell, Hausleiter des Raphael Hou-se, einer seit 18 Jahren von der Kirche betriebenen Einrichtung. 1994 waren 101 Familien im Raphael House zu Gast. Häusliche Gewalt und körperlicher Mißbrauch sind die Hauptursachen für die Obdachlosigkeit von ganzen Familien. Das Raphael House zeigt den Eltern, wie sie wieder einen geregelten Tagesablauf erlernen können. Das bedeutet etwa für ein sechsjähriges Kind mehr als nur ein Bett und ein warmes Essen. Es bedeutet einen geregelten Tagesablaufund nicht zuletzt Sicherheit. Von der Regierung bekommt das Raphael House nicht einen Groschen.

An warmen Gratismahlzeiten mangelt es den Obdachlosen in der Stadt am wenigsten. So werden etwa im Dining Room der St. Anthonys Foundation rund 250 Menüs pro Tag serviert, die Ernährungsprogramme der Salvation Army liefern rund 1.500 Essen täglich. Andere Hilfsorganisationen bieten ebenfalls warme Mahlzeiten an.

Eine unspektakuläre, dafür umso wirkungsvollere Maßnahme, die mittlerweile auch schon in Wien Einzug gefunden hat, ist der Verkauf von Obdachlosenzeitungen. Was in Wien „Augustin" heißt, sind in San Francisco der „Street Sheet" und der „Street Spirit", beide erscheinen monatlich. Von jeder Ausgabe kann sich ein Obdachloser 50 Exemplare abholen, der Erlös von einem Dollar pro Exemplar steht zur freien Verfügung.

Schuld daran, daß die Bürger von San Francisco immer weniger Geld zum Leben haben, sind aber auch die Unternehmen. Pat Eberling, Direktorin der Hilfsorganisation „Salvation Viennareport Army": „Viele Firmen kündigen ständige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und stellen statt dessen Leihpersonal an, damit sie sich Sozialleistungen ersparen." Obdachlos zu sein, ist zwar gleichzusetzen mit Armut, nicht jedoch zwangsläufig mit Arbeitslosigkeit. Zahlreiche Menschen ohne ein fixes Dach über dem Kopf sind ins Arbeitsleben integriert. Das Wohnproblem haben sie gelöst, indem sie auf Zeit bei Verwandten oder Freunden Unterschlupf finden. Obdachlos zu werden, ist nur allzu leicht: Einmal durch eine Scheidung, Arbeitslosigkeit oder schwere gesundheitliche Probleme aus der Bahn geworfen, ist der Schritt zum Verlust der Wohnung nicht mehr zu groß, wenn große finanzielle Einbußen drohen.

Dauerhafte Lösungsmodelle zum Obdachlosenproblem konnte die Stadt bisher noch nicht anbieten. Böse Zungen behaupten, im Rathaus von San Francisco sähe man es am liebsten, wenn die Obdachlosen die Stadt einfach verließen.

Ein Reispiel für menschen verachtende Unterstützungspolitik ist das sogenannte Matrix-Programm, kreiert vom ehemaligen Bürgermeister der Stadt, Frank Jordan. Es besagt unter anderem, daß jeder Obdachlose, der seinen Schlafplatz in einem Durchgang, einem Park oder ähnlichem gewählt hat, entweder 200 Dollar Strafe zahlen muß oder für eine Nacht arretiert wird. Fast niemand kann einen solchen Betrag zahlen. „Dabei", so Charlene Tschirhart, „wäre es wesentlich billiger, sie für eine Nacht in einem billigen Hotel unterzubringen, als im Gefängnis. Das Matrix-Programm kriminalisiert Menschen".

Hoffnungen, daß künftig mehr für die Obdachlosen in San Francisco getan wird, liegen beim neugewählten, seit 1. Jänner amtierenden Bürgermeister der Stadt, Willie Brown, nebenbei auch der erste afro-amerikani-sche Bürgermeister in der Stadtgeschichte. Brown wird ein stärkeres Maß an humanitärem Gedankengut nachgesagt als seinem Vorgänger, Frank Jordan. Pat Eberling ist von Brown geradezu begeistert: „Willie Brown verfügt über weitreichende politische Erfahrung, er hat Energie und er ist ein sehr guter Verhandlungspartner. Er weiß Bescheid über die gesundheitliche und soziale Situation der Stadt, er wird sicher einiges in Bewegung setzen."

Die Autorin ist

freie Mitarbeiterin der Furche.

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