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Zeitbombe Armut

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Wir sind nicht allein in unserem Engagement. Andere Religionsgemeinschaften und private Gruppen leisten allerhand Arbeit. Regierungsstellen bieten umfangreiche und verschiedenartige Hilfen für die Obdachlosen — wenn auch nicht immer so rechtzeitig und umfassend, wie wir es uns wünschen würden. Zwischen 1980 und 1982 sind Notstandsunterkünfte für erwachsene Unterstandslose in katholischer Trägerschaft von 39.000 auf 63.000 angestiegen, Notunterkünfte für Familien haben sich um fast das Dreifache auf 71.000 erhöht.

Das Problem der Obdachlosigkeit nimmt zu — es kommen immer mehr Menschen zu uns. Jede neue Einrichtung, die wir eröffnet haben, wurde fast augenblicklich bis zur vollen Kapazität in Anspruch genommen. Wir müssen oft Leute wegschicken und improvisieren, damit sie wenigstens irgendwo unterkommen. Die obdachlose Bevölkerung ist weniger einheitlich als je, es sind mehr junge Erwachsene, mehr Familien und mehr schwangere Frauen als früher.

Der „Aufschwung" erreicht die Obdachlosen nicht. Der statistische Fortschritt ist ermutigend, aber auf den Straßen merkt man nichts davon. Arbeitslosigkeit reißt weiterhin Familien und Gemeinschaften auseinander. Die Budgetstreichungen und Einschränkungen der Anwartschaft in den Armenprogrammen — insbesondere bei Wohnungsbeihilfen, medizinischer Hilfe, Arbeitsmöglichkeiten und Lebensmittelmarken etc. — haben das Problem verschlimmert und Leute, die sich gerade noch halten konnten, in Abhängigkeit und Obdachlosigkeit gestoßen.

Unsere Mittel sind bis aufs äußerste angespannt. Wir haben unsere Reserven aufgebraucht, unser Personal bis an die äußerste Grenze beansprucht, wir transferieren Ressourcen von anderen Bereichen, und dennoch können wir mit der Not nicht schritthalten. Und vielleicht das Wichtigste: unsere Anstrengungen sind meistens nur ein Notbehelf, keine wirkliche Hilfe. Wir können helfen, Leute am Leben zu erhalten, aber wir können nur in den wenigsten Fällen die Tore für ein menschenwürdiges Leben offenhalten.

Unsere Mitarbeiter in den Obdachlosenunterkünften sind zutiefst überzeugt, daß unsere Unterkünfte an sich eine unzulängliche Hilfe in der Not darstellen. Sie befürchten, daß wir eine neue, oft entmenschlichende Art entwikkeln, uns um die Ärmsten unter uns zu kümmern, durch die Strategie, die Leute in großen und manchmal primitiven Unterkünften zu isolieren. Wir sehen mehr und mehr Menschen, deren ganze Existenz sich im Kampf um Nahrung und Unterkunft aufreibt, mit wenig Hilfe oder Hoffnung für die Zukunft. Sicherlich müssen wir Nahrung und Unterkunft bieten — aber sind wir unseren Brüdern und Schwestern nicht mehr schuldig als einen Teller Suppe und einen Platz zum Schlafen? Ist das nicht eine schreckliche Verschwendung menschlichen Potentials und eine Zeitbombe, die in unserer Gesellschaft tickt?

Wir können nicht behaupten, Suppenküchen und Unterkünfte seien eine wirksame Antwort auf Armut und Obdachlosigkeit. Karitative Einrichtungen können kein Ersatz sein für eine Politik, die den Armen echte Chancen und echte Würde gibt. Suppenküchen können nicht wirksame Maßnahmen zur Beendigung des Hungers in der reichsten Gesellschaft der Erde ersetzen.

Ich befürchte, daß wir — bewußt oder unbewußt — dabei sind, eine Nation zu schaffen, deren herrschende Ethik eine moderne Version des „Uberlebens des Stärksten" ist, für das Leben der Nation und der Gemeinschaft ist sie ein schreckliches Fundament. Wir können und dürfen die Armen, die Hungrigen, die Obdachlosen und die an Leib und Seele Gebrochenen nicht allein lassen.

Aus ,,Kathpress"

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