Flüchtlinge - © Foto: iStock / wabeno

Das Trauma nach der Flucht

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Der Wiener Verein „Hemayat“ versorgt geflüchtete Menschen mit psychotherapeutischen Angeboten. Doch die Wartelisten sind lang und die Therapien dauern oft Jahre.

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Der Wiener Verein „Hemayat“ versorgt geflüchtete Menschen mit psychotherapeutischen Angeboten. Doch die Wartelisten sind lang und die Therapien dauern oft Jahre.

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Auf den ersten Blick wirkt der kleine Besprechungsraum nahe der lauten Gürtel-Straße im Wiener 18. Bezirk unscheinbar: zwei Sofasessel, ein kleines Tischchen und Taschentücher stehen bereit. Beengend wirkt das Zimmer trotzdem, wenn man weiß, welche Szenen sich tagtäglich hier abspielen. Geflüchtete berichten von Folter, Missbrauch oder von verstorbenen Verwandten. Für Helga Ehrmann und Barbara Preitler sowie ihre 50 Kollegen und Kolleginnen sind diese Gespräche Berufsalltag. Die Psychotherapeutinnen des Vereins Hemayat arbeiten täglich, oft unterstützt von Dolmetschern, mit traumatisierten geflüchteten Menschen. Im Interview mit der FURCHE sprechen sie über die Vereinsgründung, Veränderungen in der Asylpolitik und die Auswirkung von Feindbildern.

DIE FURCHE: Hemayat, das Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende, wurde 1995 gegründet. Was hat Sie dazu bewogen, einen psychotherapeutischen Verein für Geflüchtete ins Leben zu rufen?
Barbara Preitler: Rückblickend ist es kein Zufall, dass die Gründung in den 1990er-Jahren passiert ist. Denn zu dieser Zeit gab es eine Öffnung hin zu unseren Nachbarn. Ich habe mich durch meine Reisen nach Südasien und während der Balkan-Kriege mit dem Thema Flucht und Trauma zu beschäftigen begonnen. 1993 fand dann die UN-Konferenz für Menschenrechte in Wien statt, wo es einen internationalen Austausch gegeben hat. 1995 ist Österreich der Europäischen Union beigetreten. In dieser Zeit haben wir von der UNO ein erstes Jahresbudget von 80.000 Schilling bekommen. Ich war damals die einzige Psychotherapeutin neben zwei Ärzten. In der ersten Woche der Gründung hatten wir sechs Therapieplätze und es waren sofort zehn Menschen da, die Therapiebedarf angekündigt hatten. Unserem Verein haben wir dann den Namen „Hemayat“ gegeben. Im persischen und arabischen Sprachraum bedeutet „Hemayat“ so etwas wie Schutz und Betreuung.

DIE FURCHE: Wie hat sich ihre Arbeit mit den Jahren verändert?
Helga Ehrmann: In den letzten 25 Jahren hat sich ein wesentlicher Punkt für geflüchtete Menschen zum Positiven verändert, nämlich die Einführung der Grundversorgung. Als wir mit unserer Arbeit begonnen haben, waren viele Asylwerber nicht krankenversichert. Da die meisten Asylwerber nun in der Grundversorgung sind, können wir uns auf die Psychotherapie und psychotherapeutische Zusatzangebote konzentrieren. Wir bieten Einzeltherapie auch gruppentherapeutische, sporttherapeutische und kunsttherapeutische Programme an. Was ich sehr schön finde ist, dass sich vor allem die Frauen für die Sportangebote interessieren und die Männer für die Kunst, entgegen unserer ursprünglichen Erwartungen. Bei all diesen Angeboten sind Therapeuten und Dolmetscher vertreten. Und was auch ausgebaut werden konnte, ist die Arbeit mit Kindern. Sie werden von ausgebildeten Kindertherapeuten betreut. Wir arbeiten zudem mit Psychiatern zusammen, da zusätzlich zur Therapie häufig eine medikamentöse Behandlung notwendig ist. Auch hier hat sich viel verändert, weil sich die Psychopharmaka und unser Wissen darüber erheblich verbessert haben und gezielter eingesetzt werden können.

DIE FURCHE: Wie lange dauern die Therapien im Schnitt?
Preitler: Wir haben ein klares Bekenntnis zur Langzeittherapie, weil die Traumata, die unsere Klienten erlitten haben, derart komplex sind und ein Ende in solchen Fällen nur sehr schwer abzusehen ist. Die Menschen kommen meist aus Kriegsländern und erleben, obwohl sie längst in Österreich angekommen sind, trotzdem weitere Traumata. Einerseits belasten die langen Asylverfahren sehr stark, andererseits kommt die Angst um Angehörige, die weiter in Krisengebieten leben müssen, hinzu. Sie berichten von ermordeten Familienmitgliedern in den Heimatländern. Diese Erlebnisse sind natürlich retraumatisierend. Wenn es also notwendig ist, dauert eine Therapie mehrere Jahre. Denn erst wenn eine Stabilisierung und eine Verarbeitung passiert ist, kann man mit diesen Menschen beginnen, neue Perspektiven zu entwickeln. Unsere Arbeit zeigt daher nicht zuletzt auch, warum es österreichweit Psychotherapie auf Krankenschein bräuchte.

Unsere Klienten registrieren die Stimmung, die im jeweiligen Land für oder gegen Asylwerber geschaffen wird.

Hemayat - Helga Ehrmann, Psychotherapeutin bei Hemayat (li.), und Barbara Preitler, Gründungsmitglied von Hemayat, heute im Leitungsteam tätig (re.) - © Foto: Johannes Kienberger
© Foto: Johannes Kienberger

Helga Ehrmann, Psychotherapeutin bei Hemayat (li.), und Barbara Preitler, Gründungsmitglied von Hemayat, heute im Leitungsteam tätig (re.)

DIE FURCHE: Wodurch unterscheiden sich geflüchtete Menschen in ihrem Krankheitsbild von anderen? Wo liegen hier die Schwierigkeiten?
Preitler: Unsere Klienten haben viele traumatische Situationen überlebt und diese sind meist noch immer nicht abgeschlossen. Viele erleben sogar immer wieder neue Traumata. Dabei gibt es für Opfer von Menschenrechtsverletzungen ein Recht auf Rehabilitation. Weiters spielt auch das Asylland bei der Verarbeitung von Traumata eine ganz entscheidende Rolle. Unsere Klienten registrieren die Stimmung, die im jeweiligen Land für oder gegen Asylwerber geschaffen wird. Sie merken häufig, dass sie als Feindbild herhalten müssen. Und das ist einfach eine zusätzliche Verletzung und eine unheimliche Verunsicherung.

DIE FURCHE: Welche Maßnahmen bräuchte es, um diesen Menschen die Rehabilitation zu ermöglichen?
Ehrmann:
Neben dem Recht auf Psychotherapie auf Krankenschein bräuchte es auch Spezialkliniken für traumatisierte Menschen. Weil unser Angebot mit einer Stunde Psychotherapie pro Woche und Sport- und Kunsttherapien hier natürlich nicht ausreichend sein kann. Schwer traumatisierte Menschen brauchen noch weitere Angebote, um sich nachhaltig erholen zu können. Den Bedarf für solche Einrichtungen gibt es auf jeden Fall. Zudem ist unsere Warteliste lang. Einen Therapieplatz zu bekommen, kann bis zu einem Jahr dauern. Wir versuchen aber in einem Erstgespräch abzuklären, wer ganz besonders dringend Hilfe benötigt. 2018 haben wir 1353 Menschen betreut. Nach wie vor leben wir von Förderungen. Was wir aber bräuchten, ist eine stabile Basisfinanzierung, um längerfristig planen zu können.

DIE FURCHE: Wie hat sich der Diskurs über Geflüchtete seit Ihrer Vereinsgründung verändert?
Preitler:
In den 1990er-Jahren mussten wir noch dafür kämpfen, dass unser Thema mediale Aufmerksamkeit bekommt. Heutzutage bin ich jeden Tag froh, an dem das Thema Flucht und Asylwerber nicht in den Medien ist. Denn in den vergangenen zwei Jahren kamen fast täglich Nachrichten, die das Leben unserer Klienten und Klientinnen aktiv verschlechtert haben. Sei es die Kürzung der Mindestsicherung, die 1,50-Euro-Jobs oder die Abschiebung junger Lehrlinge. Dieser Diskurs hat dazu geführt, dass wir das Menschenrecht auf Asyl und Rehabilitation von Folterüberlebenden noch viel stärker verteidigen müssen. Aber nicht nur der Diskurs hat sich verändert, sondern auch die Fluchtwege.

DIE FURCHE: Kamen die Menschen damals aus näher gelegeneren Gebieten?
Preitler: Nein, das nicht. Unsere Klienten kamen damals schon aus Ländern wie dem Irak oder Somalia. Aber im großen Unterschied zu heute gab es viel humanere Wege in sichere Asylländer wie Österreich. Heute haben wir Menschen hier, die zusehen mussten, wie ihre Familienmitglieder neben ihnen im Meer ertrunken sind. Und weil die Situation für geflüchtete Menschen immer schwieriger wird, ist es umso wichtiger, dass es Einrichtungen wie Hemayat gibt. Wir machen unsere Arbeit auch in der Überzeugung, österreichische Werte zu schützen, weil Österreich ein Land ist, in dem die Menschenrechte von zentraler Bedeutung sind.

DIE FURCHE: Was müsste von politischer Seite noch getan werden, um die Situation für Geflüchtete zu verbessern?
Ehrmann: Es braucht definitiv faire und kürzere Asylverfahren, einen raschen Zugang zum Arbeitsmarkt und eine vernünftige medizinische und psychotherapeutische Versorgung. Außerdem brauchen traumatisierte geflüchtete Menschen eine differenzierte und an ihre erschwerten Bedingungen angepasste Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache. Die Menschen kämpfen mit Konzentrations- und Gedächtnisstörungen als Traumafolgen. Das sollte im Lernprozess beachtet werden können. Im Unterschied zu dem Bild, das sich in der Öffentlichkeit von geflüchteten Menschen verbreitet hat, sind die meisten sehr interessiert, Deutsch zu lernen. Es ermöglicht ihnen eine bessere Orientierung in der Welt, in der sie gegenwärtig leben, und eine stark erweiterte Möglichkeit zu handeln.

Traumata begleiten geflüch­tete Familien über mehrere Generationen und betreffen auch Kinder, die hier geboren sind.

DIE FURCHE: Sie betreuen rund 200 Kinder und Jugendliche jährlich. Wodurch unterscheidet sich die Arbeit mit den Minderjährigen im Vergleich zu den Erwachsenen?
Preitler: Die Besonderheit liegt darin, dass die Kinder natürlich nicht unmittelbare Folteropfer sind. Manche von ihnen sind schon in Österreich geboren. Das Argument, die Kinder hätten sowieso nichts mitbekommen, weil sie noch zu klein waren, ist dennoch falsch. Denn wir wissen, dass Traumata etwas Transgenerationelles haben. Das bedeutet, dass Traumata eine Familie über mehrere Generationen begleiten können. Daher haben wir ein eigenes Kindertherapieteam eingerichtet, das sich auf die Betreuung der Kinder spezialisiert hat. Außerdem tauschen wir uns immer wieder mit Lehrern und Kindergartenpädagogen aus, mit denen wir natürlich auch kooperieren.

DIE FURCHE: Welche Ziele verfolgen Sie in ihrer täglichen Arbeit mit traumatisierten Menschen?
Ehrmann: Es ist wichtig, dass sowohl Erwachsene als auch Kinder tagtäglich nicht nur mit ihrem Leiden beschäftigt sind und nicht nur mit dem, was war, sondern dass sie wieder eine Lebensperspektive entwickeln und in die Zukunft blicken können. Wir möchten sie auch dabei unterstützen, eine eigene, persönliche Identität zwischen den Kulturen aufzubauen, die nicht von Stereotypen geprägt ist, sondern von einem Prozess der tiefgreifenden Auseinandersetzung mit sich selbst und den Gemeinschaften, in denen die Menschen leben: mit ihren Familien, mit den kulturellen Werten, mit ihrem Asylland Österreich. Das ist ein vielschichtiger, aber sehr lohnender Prozess. Für unsere Arbeit ist es wichtig, dass Menschen in unserem Land nicht neuen Traumata ausgesetzt werden. Erst dann können Verarbeitungsprozesse des Vergangenen in den Therapien erfolgreich sein und neue Lebensperspektiven für diese Menschen entstehen.

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