Calais und Sinai: Nebenschauplätze der Flucht
Nicht nur am Mittelmeer spielen sich Flüchtlingsdramen ab: Von Calais aus versuchen viele Flüchtlinge nach Großbritannien zu gelangen. Und am Sinai werden sie oft zu Opfern einer komplex organisierten Mafia.
Nicht nur am Mittelmeer spielen sich Flüchtlingsdramen ab: Von Calais aus versuchen viele Flüchtlinge nach Großbritannien zu gelangen. Und am Sinai werden sie oft zu Opfern einer komplex organisierten Mafia.
Die nordfranzösische Hafenstadt Calais im Dezember 2002: Das Durchgangslager des Roten Kreuzes in Sangatte wird binnen weniger Stunden abgerissen. Entschieden hat das der damalige französische Innenminister Nicolas Sarkozy. Damit sollte verhindert werden, dass Flüchtlinge aus ganz Europa weiterhin nach Calais kommen, um von hier aus nach Großbritannien zu gelangen, das außerhalb des Schengen-Raums liegt. Rund 1000 Flüchtlingen, damals mehrheitlich Afghanen, Iraker und Kurden, erlaubt man noch die Weiterreise nach Großbritannien. Danach veranstalten Zurückgebliebene im eisigen, nasskalten Calais ein dramatisches Sit-In, um so ihre Weiterreise zu erzwingen. Die französische Polizei greift mit Schlagstöcken ein.
Doch die Einwohner von Calais helfen schon damals den Flüchtlingen. Neben dem Rotkreuz-Zentrum gibt es einige inoffizielle, kleine Zeltlager. "Wir lassen uns nicht abschrecken", lautet der Grundtenor der Flüchtlinge. Und das, obwohl die Polizei sie aufgegriffen hat und viele Kilometer von Calais entfernt im Niemandsland ohne Schuhe wieder aussteigen ließ. Viele der Flüchtlinge waren schon jahrelang unterwegs gewesen.
Halsbrecherische Fluchtversuche
Vor wenigen Wochen spielten sich in Calais ähnliche Szenen ab. Die Polizei macht erneut ein Flüchtlingslager dem Erdboden gleich - diesmal unter dem Vorwand, die Krätze sei ausgebrochen. In den Monaten zuvor haben britische Medien berichtet, wie Flüchtlinge auf halsbrecherische Weise in und unter Lastwagen klettern, um auf die andere Seite des Ärmelkanals zu gelangen. Provisorische Zeltlager wurden seit 2002 immer wieder vergeblich geräumt, weil Großbritannien nicht Teil des Schengen-Raums ist. Zudem wollen viele Flüchtlinge zu ihren Verwandten in Großbritannien gelangen. Zurzeit sind es vor allem Syrer, Eritreer, Iraker und Afghanen. Nach wie vor helfen ihnen Leute aus Calais und Umgebung. Die französische Caritas etwa versucht, das Weihnachtsfest für die Flüchtlinge, die im kalten Zelt schlafen müssen, erträglicher zu machen.
Allein seit Beginn dieses Jahres sind schon mehr als 43.000 Flüchtlinge an der italienischen Küste angekommen. Die meisten stammen aus Syrien, Eritrea und Somalia. So viele Flüchtlinge sind im gesamten Jahr 2013 angekommen. "Mare nostrum", die jüngste Grenzkontroll-Operation im Mittelmeer, soll dafür sorgen, dass in Seenot geratene Boote gerettet werden.
Seit dem tragischen Flüchtlingsunglück vor der Insel Lampedusa mit mehr als 360 Toten im Oktober 2013 hat die italienische Marine mit sieben Schiffen eine breit angelegte humanitäre Mission im Mittelmeer gestartet. Diese wird von der italienischen Marine durchgeführt, die die Rettungsaktionen koordiniert. Ziel der im Vorjahr begonnenen Maßnahme ist es, neben der Rettung der Flüchtlinge auch Schmuggler dingfest zu machen. Italien kann die hohen Kosten von 9 Millionen Euro pro Monat nicht mehr länger allein stemmen. Premier Matteo Renzi appellierte mehrfach an Europa, Verantwortung für den Rettungseinsatz im Mittelmeer zu übernehmen. Beim EU-Gipfel Ende der Woche in Brüssel will Renzi die Migrationsfrage in den Mittelpunkt rücken.
Doch die große Mehrzahl der Flüchtlinge erreicht niemals Europa. Derzeit halten sich ein bis zwei Millionen Syrer im Libanon und in Jordanien auf. Europa nahm bislang nur einige Tausend auf. Die Zahlen darüber, wie viele Flüchtlinge an den Grenzen Europas ums Leben kommen, variieren je nach Quelle. Einen umfassenden Überblick über die tatsächliche Zahl aller toten Flüchtlinge zu geben, ist das Ziel der Initiative "The Migrants' Files". Demnach gibt es viel mehr Tote als bisher angenommen: Seit dem Jahr 2000 sollen rund 23.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Bootsflüchtlinge eignen sich hervorragend für die Manipulierung und Restriktion von Einwanderungspolitik. Dies geschieht etwa mithilfe von Abkommen zwischen der EU oder Italien mit den nordafrikanischen Staaten, die nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings rasch erneuert wurden. Zwar ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex klar zur Rettung von Flüchtlingsbooten verpflichtet. Dennoch ist immer noch die Sicherheit vor Flüchtlingen und nicht die Sicherheit für Flüchtlinge der Leitgedanke der europäischen Flüchtlingspolitik.
Warum Menschen bereit sind, bei der Flucht ihr Leben zu riskieren - dafür gibt es so viele Antworten wie es Flüchtlinge gibt. Dass sie es riskieren müssen, hat politische Ursachen: fehlende Aufnahmekontingente, undurchdringliche Grenzen, die Unmöglichkeit, als Syrer oder Eritreer ein Einreise-Visum zu erlangen, geschweige denn, Asylanträge zu stellen. Noch höhere Zäune an den Grenzen Europas bringen nichts: Flüchtlinge brechen trotz aller Abwehrmaßnahmen nach Europa auf, auch wenn sie sich dafür in Lebensgefahr begeben müssen.
Entführung und Erpressung
Besonders unmenschlich ist der Umgang mit Flüchtlingen aus der Militärdiktatur Eritrea: In einem komplexen Zusammenspiel von eritreischen Milizen, korrupten Sudanesen und Beduinen werden eritreische Flüchtlinge entführt und ihre Angehörigen in den USA oder Europa über Monate erpresst. "Wenn nicht gezahlt wird, drohen Folter, Tötung, Entnahme von Organen", berichtet Sigal Rozen von der israelischen Menschenrechts-Organisation Hotline for Migrant Workers. "Doch die Zahlung von Lösegeld bedeutet nicht automatisch, dass die Angehörigen frei kommen." Der nordostafrikanische Staat mit vier bis fünf Millionen Einwohnern zählt neben Nordkorea zu den wohl repressivsten Ländern der Erde. Die Menschen fliehen in Scharen, besonders die jungen, um dem endlosen Militärdienst zu entgehen.
Tekle ist ein junger Eritreer, der vor Jahren dank einer deutschen Familie per Flugzeug über Kenia nach Deutschland einreisen konnte. Er hat einen Studienplatz in Deutschland erhalten und schließt bald seinen Master-Lehrgang ab. "Sie haben meinen Cousin entführt und fordern 10.000 Dollar", erzählt er verzweifelt. Die Entführer benutzen eine israelische Handynummer. Nun versucht die israelische Menschenrechts-Aktivistin Rozen zu helfen. Erst Monate später kommt der Cousin frei. Schließlich musste Tekle mehr als 20.000 Dollar bezahlen. Nur mühsam konnte er die Summe im Freundeskreis und in der Familie auftreiben.
In einem Bericht der Tilburg Universität über die Flüchtlingsentführungen im Sinai ist von einem schwunghaften Handel mit eritreischen Flüchtlingen die Rede. Die Entführer haben bereits über 600 Millionen Dollar erpresst, die Opfer werden grausam gefoltert, Schätzungen zufolge sind so bereits zwischen 25.000 und 30.000 Menschen gestorben. In der Studie wird bestätigt, dass die Lösegeld-Forderungen meist über israelische Mobiltelefone getätigt werden und die Zahlungen über Mittelmänner in Eritrea erfolgen. "Auch ich war damals dazu bereit, mein Leben zu riskieren", sagt Tekle rückblickend. "Doch hier in Europa habe ich gelernt, dass ich ein vollwertiger Bürger bin und dass mein Leben zu wertvoll ist, um es so aufs Spiel zu setzen."