"Das Asylrecht ist eine sehr NÜCHTERNE SACHE"

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Wer sind die vielzitierten "Wirtschaftsflüchtlinge", von denen die Rechten so gerne sprechen? Wie sollten Österreich und die EU mit ihnen umgehen? Soziologie-Professor Roland Verwiebe im FURCHE-Interview.

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Wer sind die vielzitierten "Wirtschaftsflüchtlinge", von denen die Rechten so gerne sprechen? Wie sollten Österreich und die EU mit ihnen umgehen? Soziologie-Professor Roland Verwiebe im FURCHE-Interview.

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Welche Forderungen er für naiv hält, welche Ängste für unbegründet und wie eine europäische Asylstrategie aussehen sollte, erklärt Roland Verwiebe, Soziologie-Professor an der Uni Wien mit Schwerpunkt Migration.

DIE FURCHE: Wann können wir von den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen sprechen?

Roland Verwiebe: Ich würde den Begriff nicht verwenden. Es gibt nicht nur diese zwei Motive -wirtschaftliche Verbesserung oder Flucht vor Krieg und Verfolgung. Die soziologische und ökonomische Forschung zeigt, dass es eine ganze Reihe von Gründen gibt, die zur Entscheidung führt, zu migrieren. Entscheidungen, die nicht nur Einzelpersonen, sondern Familien und Gemeinschaften treffen angesichts der Fluchtkosten von tausenden Euros.

DIE FURCHE: In der Genfer Flüchtlingskonvention ist die Rede vom Schutz vor Krieg und Verfolgung, nicht von ökonomischen Motiven. Sollte man sie aktualisieren?

Verwiebe: Da bin ich skeptisch. Die Flüchtlingsströme würden tatsächlich um Millionen wachsen. Die hiesigen Sozialstandards und Löhne würden massiv unterwandert werden, sodass das Gesellschaftsmodell der EU in dieser Form zerstört werden würde. Der Ruf, man müsse alle aufnehmen, ist eine unreflektierte, naive Forderung. Um die Zuwanderung sinnvoll zu regulieren, müssten die EU, die Anrainerstaaten und die Herkunftsländer zusammenarbeiten.

DIE FURCHE: Wie müsste die EU eingreifen?

Verwiebe: Es bräuchte eine gesamteuropäische Strategie der Regierungschefs, eventuell unter Einbeziehung der UNO und internationaler Partner. Es bräuchte eine Solidaritätsunterstützung der Mittelmeer-Anrainerstaaten, der Balkanstaaten, aber auch jener Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. "Wir haben Verantwortung, denn wir haben die Auslöser der Migration, nämlich die Kriege dort, aktiv unterstützt" - diesen Satz will ich hören, etwa vom britischen Premier Cameron, der als einer der ersten in Libyen, in Syrien, im Irak Bomben werfen ließ. Wenn man riesige Landstriche zerstört, hätte man sich vorher ausrechnen können, dass Flüchtlingsströme kommen.

DIE FURCHE: Die meisten Asylanträge stammen von Menschen aus den Krisenregionen Syrien, Afghanistan und dem Irak, Pakistan, Somalia und Nigeria. Wieso ist dauernd von "Wirtschaftsflüchtlingen" die Rede?

Verwiebe: Das ist Ausdruck der politischen Kräfteverhältnisse und des medialen Diskurses, aber auch der Sorge der Bürger, eine wenig regulierte Zuwanderung könnte die eigene Lebenssituation verschlechtern, das Sozialsystem, den Arbeitsmarkt belasten.

DIE FURCHE: Eine realistische Sorge derzeit?

Verwiebe: Im Grunde nicht. Natürlich ist die Immigration seit dem Vorjahr dramatischer geworden. Aber es gibt Anrainerstaaten wie die Türkei, die nicht so wohlhabend und gut organisiert sind, aber viel mehr Flüchtlinge aufnehmen mussten. Die rechten Parteien monopolisieren das Asylthema in Europa, betreiben eine zynische Verwertung ihrer eigenen Absichten und treiben die Volksparteien vor sich her. Das bürgerliche Lager, ob konservativ oder sozialdemokratisch angefärbt, packt das Thema nicht an. Das sehen wir in Schweden, Frankreich, Deutschland, Österreich.

DIE FURCHE: In Österreich wächst die Arbeitslosigkeit seit Jahren. Welche Rolle könnten Migranten am Arbeitsmarkt spielen?

Verwiebe: Bei der Rot-Weiß-Rot-Karte reden wir auch nicht von "Wirtschaftsflüchtlingen", sondern von qualifizierten und gefragten Arbeitskräften. Die Industriellenvereinigung hat als erste gesagt, dass man jungen, motivierten Asylsuchenden einen Ausbildungsplatz in den handwerklichen Berufen anbieten sollte. Ob der Lehrling aus Pakistan oder Tirol kommt, ist der Wirtschaft egal. Die Motivation der jungen Migranten ist viel höher als jene der bildungsfernen Schichten in den europäischen Ländern. Das Hochkostenland Österreich braucht viele ausländische Arbeitskräfte in den Berufen mit geringeren Löhnen.

DIE FURCHE: In der Asyl-Debatte schwingt oft mit, dass "Wirtschaftsflüchtlinge" den Sozialstaat ausnutzen wollen. Eine Bagatellisierung von Armut oder eine berechtigte Sorge?

Verwiebe: Die kulturellen Differenzen sind ja nicht gerade klein, daher rührt viel Sorge: Kommen die Gemeindebauten in Wien damit klar, wenn wieder zehntausende Menschen kommen? Welche Sprache sprechen diese Leute? Welche Qualifikation haben sie? Lauter berechtigte Fragen der Bürger. Kein einziger Regierungschef in Europa klärt diese Fragen. Würde die Politik Verantwortung übernehmen, wären die Bürger nicht mit diesen Sorgen konfrontiert.

DIE FURCHE: Die FPÖ wettert beim Thema Asyl sofort über "Wirtschaftsflüchtlinge", "Scheinasylanten" und "Asylbetrüger", die laut FPÖ-Mandatarin Belakowitsch-Jenewein 70 Prozent aller Flüchtlinge in Österreich stellen, was natürlich falsch ist.

Verwiebe: Man muss auf die realen Zahlen verweisen, auf die Regulierung von Zuwanderung in Österreich: Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, muss wieder gehen - das ist eine sehr nüchterne Sache. Doch 70 Prozent der Wiener Bevölkerung können sich eine temporäre Integration von Asylsuchenden am Arbeitsmarkt vorstellen. Die Bevölkerung steht vielen Fragen offener gegenüber, als es von den politischen Künstlern am rechten Rand dargestellt wird. Mein Eindruck ist, dass der Wiener Bürgermeister Häupl der Einzige ist, der Strache Paroli bietet.

DIE FURCHE: Kosovaren werden in der EU fast immer abgewiesen. Deutschland schaltet im Kosovo bereits TV-Kampagnen mit der Botschaft: "Kommt nicht, ihr werdet kein Asyl erhalten!" Auch hierzulande sind im ersten Halbjahr die Asylanträge von Kosovaren von 1065 im Jänner auf 35 im Juni gesunken. Eine sinnvolle Abschreckung?

Verwiebe: Das ist eher Ausdruck eines fehlenden Gesamtkonzeptes. Der fairere und bessere Ansatz wäre es, in diesem mafiös regierten Land die Zivilgesellschaft, die Parteienlandschaft, die Wirtschaft, das Bildungs-und Gesundheitssystem zu unterstützen. Die Frage ist, wer dafür zahlen soll.

DIE FURCHE: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hat bei ihrem Besuch in Pristina im März die Menschen aufgerufen, ihr Land wieder aufzubauen, "so wie unsere Großeltern nach dem Krieg Österreich wieder aufgebaut haben". Ein hinkender Vergleich?

Verwiebe: Die Bedingungen waren damals völlig andere. Die Infrastruktur war völlig zerstört, es gab ein anderes Level von Kommunikation und keine Alternativen, in Europa zu migrieren. Und natürlich war die Nachkriegszeit in Europa geprägt von massiver Auswanderung in die USA und nach Australien. Diese Leute nennen wir "Auswanderer", nicht "Wirtschaftsflüchtlinge", dabei waren die Motive auch ökononomische.

DIE FURCHE: Der serbisch-ungarische Grenzzaun soll Flüchtlinge vor der Ungarn-Einreise hindern. Was bewirkt diese neue Mauer?

Verwiebe: Einzelaktionen wie Grenzzäune verlagern das Problem von einem EU-Staat zum nächsten, die Flüchtlinge kommen ja trotzdem. Für die Bürger bedeutet das eine gefühlte Anarchie. Die EU sollte sich klar werden: Will Europa als christlich geprägter Kontinent mit den Flüchtlingen so umgehen? Ist das unser Bild von Nächstenliebe und Solidarität, ist das unser Selbstbild?

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