Auch Einstein war Flüchtling

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Die meisten Flüchtlinge werden von den ärmsten Ländern der Welt aufgenommen und nicht vom reichen Europa.

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Die meisten Flüchtlinge werden von den ärmsten Ländern der Welt aufgenommen und nicht vom reichen Europa.

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Wenn Patienten mit akuten Zahnschmerzen kommen, freut das weder den Arzt, noch die Patienten im Wartezimmer. Denn er kommt sofort an die Reihe, stört die Ordinationsplanung und hat womöglich nicht einmal die entsprechende Krankenversicherung. Dennoch ist es ein ethischer Imperativ, Menschen mit Zahnweh bevorzugt zu behandeln. Ganz ähnlich ist es mit Asylwerbern und Einwanderern. Während Einwanderer an die Reihe kommen, wenn das Aufnahmeland Kapazitäten hat und es zulässt, überspringen Asylwerber in der Theorie solche Zugangsbeschränkungen. Sie sind sozusagen Zahnwehpatienten und müssen Vorrang haben.

Flucht und Migration, Asyl und Einwanderung sind Begriffspaare, die in den letzten Jahren praktisch synonym gebraucht wurden. Das war nicht immer so. Über viele Jahre hinweg wurde zwischen beiden Bereichen in der Öffentlichkeit nach einer einfachen Regel klar unterschieden: Anwerbung und Einwanderung dienen dem Interesse und Bedarf eines Staates. Asyl richtet sich nach dem Kriterium der Schutzbedürftigkeit. Flüchtling ist, wem in seiner Heimat religiös, ethnisch oder politisch motivierte Verfolgung und damit massive Menschenrechtsverletzungen drohen.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bestimmte die Angst vor großen Einwanderungsströmen die Migrationspolitik der Industriestaaten. Steigende Arbeitslosenzahlen und das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa einerseits, der steigende Migrationsdruck aus den osteuropäischen Staaten und anderen Teilen der Welt andererseits, legitimierten scheinbar diese restriktive Politik gegenüber Ausländern. Mangels einer deklarierten Migrationsgesetzgebung beschränkten sich die meisten Staaten darauf, die Einwanderungskontrolle über die Asylgesetzgebung zu regeln. Beide Formen der Wanderung wurden also vermischt, die freiwillige Arbeitsmigration und die erzwungene Flucht.

Paradigmenwechsel: Einwanderer herein?

Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, sind wir mit einem abrupten Paradigmenwechsel in der Diskussion konfrontiert. Plötzlich heißt es, Einwanderer müssen herein. Unter den Bedingungen des Fachkräftemangels, des Geburtenrückganges und der Überalterung der Bevölkerung erweisen sich massive Zugangsbeschränkungen für Ausländer plötzlich als hinderlich. Der Hahn soll jetzt aufgedreht werden. Heißt das, dass die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge sich verstärkt? Nicht unbedingt. Denn Staaten regeln die Zuwanderung gerne nach dem eigenen Bedarf. Die Flüchtlingsaufnahme entzieht sich aufgrund ihres Wesens jedoch einer derartigen Steuerung. Asyl ist das Notaufnahmesystem für die Verfolgten und hat sich allein am Schutzbedarf der Betroffenen zu orientieren, nicht an Eigeninteressen der Aufnahmestaaten.

Die Komplexität von Bevölkerungsbewegungen wirkt sich erschwerend auf die Asylpraxis der Aufnahmestaaten aus. Es ist mühsam und aufwendig, die individuelle Unterscheidung zwischen Flüchtling und Migrant zu treffen. Die Wanderungsbewegungen sind komplexer geworden was die Trennung nicht einfacher macht. Natürlich geschieht es, dass Einwanderer das Asylsystem missbrauchen, weil dieses die einzige Möglichkeit darstellt, sich Zugang zum Zielland zu verschaffen. Wenn Asylmissbrauch auftritt, verschwimmen die Grenzen zwischen Flucht und Migration. Echte Flüchtlinge werden mit illegalen Einwanderern gleichgesetzt, die Jobs und Sozialhilfe wollen, welche ihnen nicht zustehen.

Aber Flüchtlinge haben einen moralischen und rechtlichen Anspruch auf Asyl. Sie müssen um ihr Leben fürchten, wenn sie in den Heimatstaat zurückgeschickt werden. Oft sind sie schwer traumatisiert, waren Opfer oder zumindest Augenzeugen von physischer und psychischer Gewalt. Ihnen Asyl zu gewähren heißt buchstäblich ihr Leben retten.

Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 ist die Magna Charta des internationalen Flüchtlingsrechts. Mit der Verabschiedung dieser Konvention wurde vor einem halben Jahrhundert ein rechtshistorischer Quantensprung vollbracht. Aus einem staatlichen Gnadenakt entwickelte sich das Asyl zum individuellen Schutzanspruch für Verfolgte. Dutzende Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben unter diesem Titel Sicherheit, Schutz und die Chance auf ein neues Leben erhalten. Auch wenn nicht alle Staaten immer über die Verpflichtungen glücklich waren, die ihnen aus der Genfer Flüchtlingskonvention erwachsen, so galt sie als hohes und unantastbares, ja tabuisiertes Rechtsgut.

Es blieb einem Arbeitspapier der österreichischen EU-Präsidentschaft 1997 vorbehalten, erstmals offen die Sinnhaftigkeit "rechtsförmig durchsetzbarer subjektiver Rechte" zu hinterfragen. Man schlug vor, beim Asylrecht das rechtlich abgesicherte Schutzkonzept durch ein politisch orientiertes zu ersetzen. Offiziell wurden die Thesen des Papiers von vielen Staaten abgelehnt. Im Abschlussdokument des Treffens der EU-Regierungschefs in Tampere im Oktober 1999 wird die "uneingeschränkte und allumfassende Anwendung" der GFK und ihrer Standards unterstrichen und klar von der Frage der Einwanderung getrennt.

Doch der nächste Angriff ließ keine zwei Wochen auf sich warten. In einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit verkündete der deutsche Innenminister Otto Schily konträre Standpunkte: "Ein subjektives Recht auf Asylgewährung wird die EU nicht akzeptieren." Die Asylgewährung, sagte er, müsse "auf dem freiwilligen Entschluss einer Gesellschaft" beruhen. Die Diskussion war eröffnet. Erst vor wenigen Tagen ließ der ehemalige SPD-Politiker und Vordenker Peter Glotz aufhorchen, als er in einem Interview mit der schweizerischen Woche der deutschen Regierung riet "klipp und klar zu sagen, wie viele Flüchtlinge man aufnehmen will."

Europa war immer aufnahmebereit In der europäischen politischen Landschaft haben Flüchtlinge immer eine große Rolle gespielt, insbesondere im letzten Jahrhundert. Ob es die Russen waren, die 1919/20 vor den Bolschewiki flüchteten, ob es Armenier waren, oder die Menschen, die vor dem spanischen Bürgerkrieg flüchteten. Der Zweite Weltkrieg machte Millionen Menschen zu Flüchtlingen. In der Nachkriegszeit waren es die Menschen, die aus kommunistischen Regimen flohen, später die Bootsflüchtlinge aus Vietnam, die Aufnahme fanden.

In den letzten zwanzig Jahren haben sich auch die Flüchtlingsströme globalisiert. Heute suchen Menschen aus aller Welt auch in Europa Zuflucht, wobei man nie vergessen sollte, dass die meisten Flüchtlinge der Welt von den ärmsten Ländern der Welt aufgenommen werden und nicht vom reichen Europa.

Offenheit gegenüber den Verfolgten ist ein konstituierender Bestandteil der europäischen Identität, seiner moralischen, politischen und historischen Werte. Auch heute, da viele Flüchtlingsfragen neu angedacht werden, sollte man nicht vergessen, dass religiöse, ethnische und politische Verfolgung noch überall auf der Welt vorkommen, und dass wir eine Verantwortung für die Opfer dieser Verfolgung haben, solange es den Politikern nicht gelingt, die Ursachen zu beseitigen.

Heute ist die EU dabei, ihre Asylpolitik zu "vergemeinschaften". Das bedeutet, dass alle Asylrechtsfragen innerhalb der nächsten Jahre aus der nationalen Verantwortung der Mitgliedstaaten ausgegliedert werden, und eine gemeinsame Rechtssatzung der EU in diesem Bereich entsteht. Die Harmonisierung der einzelnen Gesetze von fünfzehn EU-Staaten ist ein mühsamer Prozess, bei dem die Gefahr besteht, dass man sich bei jeder Regelung auf den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner einigt und somit ein EU-Asylrecht entsteht, das schlechter ist als die fünfzehn nationalen Asylrechte in Summe. Denn was die EU beschließt, hat nicht nur für die Mitgliedsstaaten und die Kandidatenländer Bedeutung, sondern wird global neue Standards in der Asylpolitik setzen.

Statt Denkverbot: Sinnvolle Lösungen Natürlich darf es kein Denkverbot geben. Es ist durchaus sinnvoll, nach neuen Lösungen für die Anforderungen der Asylpolitik zu suchen. Aber man darf dabei nicht den eigentlichen Sinn aller Asylpolitik vergessen: Sinn und Zweck der Genfer Konvention und aller Asylregelungen ist es, Menschen, die in ihrem Heimatstaat verfolgt werden, internationalen Schutz zu gewähren, solange das erforderlich ist. In der internationalen Flüchtlingsarbeit gibt es viel zu tun: * Noch fehlt es an wirksamen Präventionsmechanismen, die an den Ursachen der Flucht ansetzen und große Flüchtlingsströme gar nicht erst entstehen lassen. In vorbeugende Maßnahmen zu investieren, statt in ausgeklügelte Grenzkontroll- und Abschottungssysteme ist menschlicher und langfristig zielführender.

* Notwendig wird sein, komplementäre Formen zu finden, um das Asylrecht zu ergänzen, etwa die vorübergehende Aufnahme von Menschen in Massenfluchtsituationen.

* Natürlich stellen Flüchtlinge eine finanzielle und soziale Belastung der Aufnahmestaaten dar. Ausgleichsmaßnahmen müssen geschaffen werden - allerdings im globalen Maßstab -, denn während europäische Staaten bei einigen Tausend Flüchtlingen schon alarmiert reagieren, beherbergen die ärmsten Länder der Welt oft über Jahre hinweg Hunderttausende Flüchtlinge.

All diese Einzelmaßnahmen können nur funktionieren, wenn man akzeptiert: Migration - ob freiwillig oder erzwungen - ist kein Schreckgespenst, sondern ein Phänomen, das die Menschheit über Jahrhunderte hinweg begleitet und Fortschritt ermöglicht hat. Wer das verstanden hat, begreift Flüchtlinge als Bereicherung und Chance für die Gesellschaft und nicht als Belastung. Schließlich war auch Einstein Flüchtling.

Die Autorin ist Vertreterin des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) für Österreich

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