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Die Ausgestoßenen der Welt

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Die Weltflüchtlingsfrage ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren als Fridtjof Nansen zum ersten Hochkommissar, damals noch des Völkerbundes, für Flüchtlinge bestellt wurde. Ihm ist der Nansen-Paß zu danken, ein internationales Reisedokument für anerkannte Flüchtlinge aus der Völkerbundzeit. Aber auch die UNO-Ära kennt ein solches Dokument, das übrigens vielfach noch als Nansen-Paß einfachheitshalber bezeichnet wird, und stützt sich dabei auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der die meisten Staaten des sogenannten Westens beigetreten sind und die sie ratifiziert haben. Aus den kommunistischen Ländern gehört nur Jugoslawien zu den ratifizierenden Unterzeichnerstaaten.

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Die Weltflüchtlingsfrage ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren als Fridtjof Nansen zum ersten Hochkommissar, damals noch des Völkerbundes, für Flüchtlinge bestellt wurde. Ihm ist der Nansen-Paß zu danken, ein internationales Reisedokument für anerkannte Flüchtlinge aus der Völkerbundzeit. Aber auch die UNO-Ära kennt ein solches Dokument, das übrigens vielfach noch als Nansen-Paß einfachheitshalber bezeichnet wird, und stützt sich dabei auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, der die meisten Staaten des sogenannten Westens beigetreten sind und die sie ratifiziert haben. Aus den kommunistischen Ländern gehört nur Jugoslawien zu den ratifizierenden Unterzeichnerstaaten.

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Es wäre falsch, zu glauben, daß Flüchtlingsfragen erst 50 Jahre alt wären. Man braucht nur in die Geschichte des Alten Testaments zurückblättern und findet Austreibungen und Fluchtprobleme zuhauf. Der Unterschied zur Gegenwart, und zwar schon jener der beginnenden Völkerbundära, liegt wohl darin, daß früher nur Asylrechtsfragen eine Rolle spielten, die heute zwar ebenfalls sehr wichtig, aber nicht mehr der alleinige Aspekt der Flüchtlingsfrage sind, und daß man im Zeitalter der Menschenrechte und Grundfreiheiten die zwangsweise Aussiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen aus politischen, ethnischen, rassischen und religiösen Gründen als völkerrechtswidrig ansieht.

Dies im übrigen mit Recht: Zwar wird manchmal, vor allem in der englischen Literatur von heute, ein völkerrechtlicher Anspruch auf Verbleib in der angestammten Heimat als romantische Idee bestritten oder es wird den Neusiedlern auf dem Boden der vertriebenen Gnippen . bescheinigt, sie hätten, durch |$j$r Hände Arbeit den Fremdraum sich erackert und damit und durch Arbeit Heimatrecht erworben. Doch steht einer solchen Auffassung vor allem das Protokoll Nr. 4 zur Europäischen Menschenrechtskonvention entgegen — auch Österreich hat es ratifiziert —, welches die Zwangsumsiedlung innerhalb eines Staatsgebietes und sogar die Massenausweisung von (lang ansässigen) Ausländern verbietet. Ein französischer Gelehrter, Marc Lengerau, hat sogar in Grenoble eine umfassende Dissertation dem „Droit ä la Heimat“ gewidmet (1970).

Die Flüchtlingsfragen haben sich allerdings in den letzten Jahren mehr und mehr in andere Erdteile verlagert, während sie früher in Europa endemisch gewesen waren. Vor allem gilt das von Afrika und Asien, doch sind auch die beiden amerikanischen Subkontinente mehr und mehr mit Flüchtlingsfragen, die dort entstehen, konfrontiert, vor allem seit dem Strom der Kuba- Flüchtlinge nach, den USA. Die Flucht von gestürzten Diktatoren und Regierungsmitgliedern in Südamerika ist aber weniger dem Flüchtlingsproblem zuzuordnen als vielmehr dem dort beheimateten Bereich des diplomatischen Asyls oder schlechthin der Asylgewährung. Asylfragen stehen aber in engstem rechtlichen Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem.

Die Gründung neuer Staaten in Afrika und Asien hat zu bedeutenden Flüchtlingsströmen geführt, die ihre Ursachen in der Nichtbewältigung der errungenen Freiheit, in der unorganischen Ziehung der Staatsgrenzen, aber auch im Aufsteigen totalitärer politischer Ideen oder auchin neuen Nątionalismen haben. Vor allem der Nationalismus führt immer wieder zu eigenartigen Wucherungen und Ausblühungen mit der Folge, daß „Fremde“ auf den Weg der Flucht geschickt werden.

Es hat nicht den Anschein, als ob das Flüchtlingsproblem in auch nur einigermaßen überblickbaren Zeiträumen auf der Welt verschwunden wäre. Und als ein persönliches Geschick haben es auch in Europa immer noch viele Einzelpersonen zu tragen, die aus Staaten mit kommunistischer oder faschistoider politischer Führung fliehen müssen, um Leben oder Gesundheit zu retten. Es ist bedauerlich, daß heute aber auch im Vereinigten Königreich, nämlich in Nordirland, Flucht aps wohlbegründeter Furcht vor politischer

Verfolgung oder wegen religiöser oder ethnischer Verfolgung keine Seltenheit mehr ist

Nationale und internationale Flüchtlinge

Während der UNO-Hochkommis- sär für Flüchtlinge, dessen Amt für Österreich derzeit von Nils-Goran Gussing geleitet wird, nach seinem Statut nur für die internationalen Flüchtlinge (Mandatsflüchtlinge) zuständig ist, durchforscht die 1955 gegründete AWR, die Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem, auch die Frage der sogenannten nationalen Flüchtlinge, die vielfach auch Vertriebene oder Heimatvertriebene genannt werden. Auch sie gehören zum großen Oberbegriff der Flüchtlinge, denn sie haben ihre Heimat ja nicht freiwillig verlassen, sondern .unterlagen-einer Massenzwangswanderung nqr. (mass migration), oft auf Grund von Umsiedlungsverträgen (Griechenland-Türkei 1921 war der erste große Paradefall) oder auf Grund vpn „Vernichtungsparolen“ (das galt für die vön Hitlers Umsiedlungsparolen „Heim ins Reich“ geholten Volksdeutschen, die nur die Wahl zwischen Preisgabe durch das Deutsche Reich und zumeist Preisgabe an Zerstörung ihrer Volkssubstanz einerseits und Umsiedlung anderseits hatten).

Die nationalen Flüchtlinge beziehungsweise Vertriebenen, die durch die Potsdamer Beschlüsse vom 2. August 1945 in völkerrechtswidriger Weise durch die Austreibung der Deutschen aus Ostdeutschland, dem

Sudetenland und anderen Gebieten ungeheure ziffernmäßige Ausmaße erreichten (rund 17 Millionen Menschen), aber auch in Indien-Pakistan 16 Millionen Menschen darstellten, waren allerdings zumeist insofern günstiger gestellt, als sie in ein Land mit gleichsprachiger und gleichethnischer Bevölkerung kamen und sich dadurch ebenso leichter taten, wie durch die in manchen Staaten entwickelte, oft großzügige Lastenausgleichsregelung (BRD, Finnland, Frankreich, in geringem Ausmaß auch Italien, nur in minimalen Ansätzen auch Österreich). Man darf aber nicht übersehen, daß die Aufnahmeländer oft selbst durch den Krieg oder, wie in Asien und Afrika heute, durch wirtschaftliche Ohnmacht, Naturkatastrophen oder Überbevölkerung geschwächt sind oder waren und daher die großzügige Menschenfreundlichkeit, die von ihren Völkern gefordert wurde, nicht selten auf dem Papier blieb.

53,3 Millionen

Die nationalen Flüchtlinge waren und sind auch heute noch an Zahl erheblich größer als die internationalen bzw. Mandatsflüchtlinge (so genannt, weil sie dem Mandat des UNO-Hochkommissärs unterstellt sind). Bis zum Jahre 1967 zählte man 53,3 Millionen nationale Flüchtlinge, aber nur 8,1 Millionen internationale Flüchtlinge. Von den nationalen entfielen auf Europa 23,3 Millionen, auf die übrigen Kontinente aber 30 Millionen (davon 8 auf Pakistan, 8 auf Indien, 3 auf Südkorea, 2 auf Nationalchina, 1,2 auf Hongkong und

1 Million auf Südkorea als Zufluchtsländer). In der Zwischenzeit haben wir aber durch die jüngsten Ereignisse in Ostpakistan eine enorme Welle internationaler Flüchtlinge nach Indien, die etwa 8 Millionen Menschen dorthin gebracht haben soll. Bei den Biafranern, die aus Nordnigeria nach der Ostprovinz flüchteten, handelt es sich nach Meinung des UNO-Hochkommissärs um „nationale“, nach Meinung der

AWR, aber auch einiger Staatsregierungen in Afrika selbst, um „internationale“. Die Doppeldeutigkeit des Wortes „national“ kommt darin zum Ausdruck. Geht man nämlich von ethnischen oder Stammesgesichts- punkten aus, ist der Ausdruck unberechtigt.

Österreich ist für seine umfassende und vor allem auch prompte, unbürokratische Hilfeleistung an politische, religiöse und ethnische Flüchtlinge bekannt, und nur bei den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen hat es sich eher verschlossen gezeigt (also Flüchtlingen, die wegen der oft auf die politischen Verhältnisse zurückgehenden wirtschaftlichen Notlage im Herkunftsstaat um Asyl ansuchten). Das ist am deutlichsten bei der Ungarnkrise 1956 zum Ausdruck gekommen; aber ebenso anläßlich der Besetzung der CSSR durch die Staaten des Warschauer Paktes im August 1968.

In dieser Woche findet in Österreich, in Bad Kreuzen, der AWR- Kongreß statt. Er wird ein strenger Arbeitskongreß sein und hat rund 30 Referate zur Grundlage seiner Diskussionen.

Die Thematik des Kongresses, „Der Stand der Weltflüchtlingsfrage heute“, ermöglicht eine breite Auffächerung der zu behandelnden Fragen und soll auch aufzeigen helfen, daß man in der Flüchtlingsforschung in Wirklichkeit erst am Anfang steht.

Und Österreich als jenes Land mit großer Erfahrung im Flüchtlingswesen kann dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

Hermann Gebhardt, Montevideo, über die Entwicklung Südamerikas in der Zukunft

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