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Digital In Arbeit

Naturreservat, vergessen kann?

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zember 1991 publizierte Studie des Senegalesen Mamadu Dia zitiert über die „psychologischen Triebfedern der wirtschaftlichen Entscheidungen in Afrika“. Darin liest man: Die afrikanische Psychologie ist von einer starken Beziehung zwischen den Dingen, Menschen und Übernatürlichem geprägt. Ihr Hauptprinzip ist die Suche eines Gleichgewichts zwischen dem anderen und Übernatürlichen. Wenn es überhaupt eine Grenze zwischen kollektiven und individuellen Prioritäten gibt, so ist sie nur sehr schwach.

■ Man legt in Afrika mehr Wert auf zwischenmenschliche Beziehungen und auf die gehörige Verrichtung von sozialen, religiösen oder mystischen Handlungen als auf individuellen Erfolg.

■ Der Wert wirtschaftlichen Handelns wird daran gemessen, wie weit dadurch die Bindungen in einer Gruppe verstärkt werden.

■ In Schwarzafrika gelten nur jene Reichtümer, die mit der Gemeinschaft geteilt werden und dort sichtbar gemacht werden können: zum Beispiel Vieh, Essen, Stoffe und prächtige Kleidungsstücke. Die Großfamilie ist stets gegenwärtig: ein Überschuß oder Mehreinkom- men geht zuerst an die nächsten Familienangehörigen, dann an die Nachbarn und schließlich an den Stamm.

■ Wirtschaftlicher Erfolg wird nicht notwendigerweise von sozialem Aufstieg begleitet. Es kann sogar Vorkommen, daß ein Erfolg außerhalb der Gruppe zum Ausschluß führt (viele reiche Afrikaner sind es außerhalb ihrer Heimat geworden).

■ Das Sicherheitsbedürfnis ist der Hauptgrund für diese Verhalten: jeder, der sich großzügig gezeigt hat, kann in schwierigen Zeiten auf seine zu Dank Verpflichteten zählen.

■ Die afrikanische Gesellschaft ist im allgemeinen paternalistisch und sehr hierarchisch. Man hält wenig von Individualismus. Egalität gilt nur zwischen einer Altersgruppe, die Beziehungen zu den anderen Gruppen sind hierarchisch.

■ Ein Versprechen gilt viel, wird von mehreren Anwesenden bezeugt, die die Tatsachen in Erinnerung behalten müssen. Im Gegensatz zu den hohen Uneinbringlichkeiten des formellen Bankensektors stehen in Afrika die guten Rückzahlungsresultate im traditionellen Finanzsektor (der Tontinen und Sparvereine).

■ Müßiggang ist hier nicht immer mit Faulheit gleichzusetzen: Der erste dient zur Verstärkung der Beziehungen, in denen die Gesellschaften gründen. Daher ist der Grenzertrag der „unproduktiven Arbeit“ (des Müßiggangs) ganz und gar nicht Null: Ein Bauer wird sich nur dann einer Innovation öffnen, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Gewinne der zusätzlichen Arbeit wesentlich höher sind, als die, die er aus seiner derzeitigen Arbeits-Müßiggangskombination zieht.

■ Und was die ewigen Pannen aller Art und fehlenden Vorbeugungswar- tunaen betrifft: man kann hier machen, was man will, niemals wird man sich gegen das Unvorhergesehene schützen können.

Während meiner zehnjährigen Arbeit in Zentral- und Westafrika habe ich bisher nie beobachten können, daß afrikanische Unternehmer oder Familienväter und schon gar nicht die unternehmerischen und attraktiven Frauen Kameruns, eine bessere Zukunft für sich, ihre Kinder oder für ihre Familien abgelehnt hätten.

Da sich immer mehr die Überzeugung durchsetzt, daß sie dies doch am besten selbst umsetzen sollten und wir gleichzeitig einige katastrophale Ereignisse konstatieren, entwickeln sich zuletzt die Reflexe stärker, sich da lieber ganz heraushalten zu wollen. Afrika sollte ein Naturreservat bleiben oder werden. Und das wieder dringend, rasch. So daß man es guten Gewissens vergessen könnte. Genauso wie in den vergangenen Jahrzehnten eilig die Industrialisierung, Verschuldung, Revitalisierung der Landwirtschaft, der Ausbau der Infrastrukturen, der Umweltschutz, die Gleichstellung der Frauen, die Respektierung der Menschenrechte, die Öffnung und Zugänglichmachung der Märkte und zuletzt die Demokratisierung gefordert worden war.

Der unter Aktivisten der Entwicklungshilfe und ihren Kritikern weit verbreitete Ton der Dringlichkeit führt den Praktiker auf die Spur zu den Moralisten. Gibt es eine Moral der Dringlichkeit? Sicher im Einzel- und Gewissensfall, in der Not, aber sonst eher nicht.

Die Glaubwürdigkeit dieser Moralisten leidet darunter, daß bei ihren Debatten kein Ende abzusehen ist, was denn noch dringender sei — Bangladesch oder Nikaragua, Menschenrechte oder Umweltschutz, Rehabilitation der Straßen oder Schutz des Regenwaldes, der primäre oder der tertiäre Schulzyklus, Aid oder Trade - und weil auch kein Ende des Bedarfs fremder Mittelzuströme abschätzbar ist.

UNSINNIGE ZAHLEN

Dringendes, drängendes Aufzeigen von Gefahren oder Drohungen von ausbleibenden Hilfsmitteln bei Nichteinhaltung von Bedingungen erregen auch bei den Afrikanern Argwohn. Zu hoffen, daß sich per optimistisch angesetzter Wirtschaftswachstumsraten die afrikanischen Wirtschaften in 270 Jahren (Schätzung des französischen Wirtschafters Paul Bairoch im Jahre 1971) auf unser Niveau entwickeln oder in sieben Generationen Westminister Demokratie eingeübt haben werden, ist utopisch.

Zur Zeit Ludwigs XIV., Maria Theresias und William II. waren Frankreich, Österreich und England ungefähr gleich arm wie das Indien unter dem Herrscher von Tamerlan oder das China unter Kiang Hi. Seither hat der Westen dieses Gleichgewicht der Armut offensiv gesprengt, die Spielregeln geändert und die anderen Gesellschaften vor die Wahl gestellt, entweder wirtschaftlich dominiert zu werden oder selbst in den Zyklus der Industrialisierung einzutreten.

Im „Schluchzen des Weißen Mannes“ von Pascal Bruckner wird dafür weniger die technische Vernunft als die Modernität als der „Geist aus der Flasche“ verantwortlich gemacht. Es sei diese herausfordernde Idee und weniger der Besitz und Konsum von Gütern und Leistungen, die die Kunst zu leben in ihre Krise gestürzt und die Menschen in zwei Klassen geteilt hat: evoluės, arrierės. Wir, deren Wohlstand heute „soviel Störung erregt wie ein Naturunglück“ (Paul Claudel, 1930 über die USA) wurden dadurch aber den Armen zu Verpflichteten.

Aus vielerlei Gründen beginnt für uns Österreicher die Dritte Welt in Spielfeld und bis nach Afrika ist es von dort noch weit. Österreicher waren Kolonialisten vor der Zeit, die Österreichisch-Afrikanische Gesellschaft existierte, gestützt vom Kronprinz Rudolf, gerade sechs Jahre, bevor sie wegen finanzieller Zwänge in die Österreichische Geographische Gesellschaft eingegliedert werden mußte. In der Parallelaktion von Musils Diotima wird immerhin ein Forscher der Ewe-Sprache erwähnt. Die dem europäischen Kolonialismus zugrunde liegende Geisteshaltung, die Pädagogik, war in Österreich zum Zeitpunkt des Beginns des Wettrennens in den Süden sehr wenig angesehen. Später wurde in Wien mit der Entwicklung der Psychiatrie eher die Demolierung der Kolonisatoren vorbereitet.

Entwicklungshilfe hat im modernen Österreich aber zumindest nichts angerichtet, um jetzt aus Gesellschaftsverdrossenheit radikal in Frage gestellt zu werden: Unsere Exportstrukturen blieben durch die Anstrengungen einer kleinen Minderheit nicht auf rückständige Märkte ausgerichtet, unterbeschäftigte Arbeitnehmer oder Hochschulabgän

ger wurden nicht nach Afrika subventioniert, auch Kredithaftungen eher dort kumuliert, wohin der Steuerzahler seine Politiker reisen sah. Und es gibt hier kaum Entwicklungshilfe-Bürokratie.

Ein Freund, der zairesische katholische Priesterdiplomat Gilbert Ka- lumbu, der nach drei Jahren Dienstes an der Nuntiatur in Lagos derzeit einer der ganz wenigen ausländischen Beobachter in Algier ist, sieht die Lösung der afrikanischen- Probleme chronischer politischer Gewalt, Ruchlosigkeit der Eliten, kombiniert mit ethischen und religiösen Gefühlen in dem „Recht auf Verschiedenheit“: kultureller und

religiöser Unterschiede im arabisch- berberischen Norden, der Stammesunterschiede in West-, Ost- und Zentralafrika sowie der Rassenunterschiede im Süden des Kontinents. Kalumbu wünscht sich Hilfe für jene, die die Ideale der „difference“ hochhalten.

Das sind Erziehung und Information, beides langfristig. Ich selbst würde als Praktiker einfach für mehr und längerfristige Kontakte, Lernbereitschaft im Norden und für viel mehr Praxisnähe bei der laufenden Zusammenarbeit plädieren. Und dann für noch mehr Hilfe.

Der Autor ist

Haride Isde legierterfür Nigeria.

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