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Ist Nansens Geist tot?

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Als der englische Schriftsteller Priestley seine herbe Kritik an den Politikern als den Managern des Zeitgeschehens in der herausfordernden Feststellung ausklingen ließ, daß wir mehr kluge und gute Menschen hier auf dieser Erde brauchten, „anstatt einer Reihe von Idioten auf dem Weg zum Mond“, könnte er auch an die ungelöste, seit Kriegsende zu einem Weltproblem par excellence angewachsene Flüchtlingsfrage gedacht haben, die, wie kaum ein anderes menschlich bewegendes Anliegen, die amtliche und private Oeffentlichkeit seit nahezu fünfzehn Jahren beschäftigt.

Noch bevor das UN-Flüchtlingsstatut von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 14. Dezember 1950 angenommen und damit eine Zentralstelle für Planung und unmittelbare Hilfe geschaffen werden konnte, hatten kirchliche und private Hilfsstellen die Notwendigkeit erkannt, den aus nationalsozialistischer Verblendung und politischer Unduldsamkeit heraufbeschworenen Komplex abzubauen, nicht immer richtig verstanden von den Soldaten und Politikern, die sich durch den Hinweis auf eine Art Hypothek auf ihre Erfolgsbilanz sozusagen um die Früchte ihres „absoluten“ Sieges geprellt fühlten. Darum sei am Beginn des von der UN-Vollversamm- lung im Dezember 1958 proklamierten Weltflüchtlingsjahres, das von Juni bis Juni währt, zunächst auch jener Männer gedacht, die durch ihre aufklärende und werbende Tätigkeit einer internationalen Solidarität zugunsten der Flüchtlinge erst die Wege ebnen mußten: allen voran Dr. Eifan Rees von protestantischer Seite, der besonders im Rahmen des Weltkirchenrates eine weltweite Aufgeschlossenheit für das Problem wirksam fördern konnte, und Msgr. Dr. Edward S w a n s t r o m, des Direktors der amerikanischen NCWC, der bezeichnenderweise mit einer soziologischen Studie über die Brooklyner Hafenarbeiter dissertierte.

Es sei leicht, nachträglich gute Ratschläge zu erteilen, wird man einwenden können, wenn heute der Praxis der Flüchtlingspolitik gegenüber in den ersten Besatzungsjahren ernste Vorbehalte angemeldet werden müssen: Während sich diesseits einer beiläufigen Linie von der Ostsee bis Triest durch Vertreibung und Flucht auf engstem Raum soziologisch ein Zündstoff zusammenballte — es gibt gewisse Anhaltspunkte für die Annahme, daß sich die Vertreiberstaaten davon eine soziale und damit auch politische Sprengwirkung erhofft hatten —, befleißigten sich UNNRA und IRO zunächst einer Aufspaltung dieser soziologischen Einheit der Flüchtlinge nach nationalen Gesichtspunkten oder gar nach der Zugehörigkeit des einzelnen Flüchtlings zu einer „kriegführenden“ und daher „feindlichen

Nation' einerseits und in Flüchtlingsgruppen anderseits, die den Alliierten zugezählt wurden und daher als „echte“ DP.s in jeder Weise auf bevorzugte Behandlung rechnen konnten.

Aber das Leben läßt sich nicht in eine Schablone zwängen, und die gar nicht zu beneidenden "DP-Offiziere sähefi' sich" immer wieder vöf die Alternative gestellt, ob sie in Einzelfällen nach etatisierten oder nach ethnischen Gesichtspunkten ihre Entscheidungen treffen sollen: war ein Kroate, der staatsrechtlich zweifellos noch als „Jugoslawe" hätte gelten müssen, nachdem der Unabhängige Staat Kroatien völkerrechtlich gar nicht bestanden hatte, Angehöriger einer „befreundeten“ oder einer „Feindnation“? Konnten einem Volksdeutschen aus der Karpato- Ukraine, die 1918 der Tschechoslowakei zugeschlagen, nach Einmarsch der Deutschen in der ČSR aber von Horthy okkupiert und Ende 1944 durch die Russen besetzt und der UdSSR einverleibt wurde, die Benefizien eines DP.s zugestanden werden, oder galt es, ihn als deklassierten „Deplacierten“ abzustempeln?! Wie dem auch sei: viele, die geneigt waren, aus der Katastrophe die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen, sahen sich bitter enttäuscht und künstlich in eine Welt zurückgeworfen, deren Gesetzmäßigkeit aus einem Antrieb heraus erfolgte, der bereits brüchig geworden war. Der Geist des norwegischen Menschenfreundes Nansen, der über die gewährte konkrete Hilfe hinaus nach dem ersten Weltkrieg reife Früchte zu tragen begann, war nicht auferstanden.

Als der erste UN-Flüchtlingshochkommissar, der Holländer Dr. G. J. van Heuven-Goed- h a r t, sein schweres Amt übernahm, erfuhr die Oeffentlichkeit kaum etwas darüber, daß seiner Ernennung hinter den Kulissen ein Tauziehen in den Vereinten Nationen zwischen einem Kandidaten, den vor allem die US-Amerikaner gerne an dieser Stelle gesehen hätten, und einem eher von den europäischen Mitgliedsnationen gestützten Gegenkandidaten vorangegangen war. Die Entscheidung zugunsten eines dann auch von den Amerikanern akzeptierten Europäers dürfte insofern für die weitere Entwicklung ausschlaggebend gewesen sein, als die Koordination aller, vor allem der finanzkräftigen amerikanischen Flüchtlingsorganisationen — etwa der tlSEP — dem UN-Hochkommissariat niemals recht gelingen wollte. Der inzwischen verstorbene Heuven-Goedhart, der der niederländischen Sozialdemokratie nahegestanden sein soll, hatte, wenn man von den Erfolgsberichten seines Amtes absieht, die die Zeitungen routinemäßig zu übernehmen pflegen, wenn nicht gerade ein zwingender Anlaß für eine eigene Deutung vorliegt, eigentlich keine gute Presse in den USA. In der McCarthy-Aera wurde er in großen Zeitungen sogar des Kryptokommunismus geziehen. Dennoch gelang es ihm, für viele überraschend schnell, schon 1952 aus der Ford-Stiftung eine Spende von über 3 Millionen Dollar für sogenannte „Musterprojekte" zu sichern, von denen allerdings die etwas eifersüchtig über die Verwendung der Hilfsmittel des Hochkommissariats wachenden Flüchtlingsvertreter, ohne dazu freilich ermächtigt oder beäuftragt zu sein, nicht alle als solche anerkennen wollten. Ohne Zweifel, es gab manche Fehlinvestition, die weder als

Flüchtlingsprojekt, geschweige denn als Musterprojekt angesprochen werden konnte.

Der liberalen Flüchtlingspolitik Heuven-Goed- harts, die improvisierte Maßnahmen trotz der Abhängigkeit von einer komplizierten UN- Maschinerie immer noch zuließ, folgte die als zentralistisch gekennzeichnete Amtsperiode seines am 10. Dezember 1956 gewählten Nachfolgers, des Schweizers Dr. August R. Lindt. Als hervorstechendes Kennzeichen seines Regimes wird ein gewisser Hang zur Kategorisierung der Flüchtlingsmassen empfunden — wohl im Einklang mit dem Buchstaben der Flüchtlingskonvention und rigoros die Wünsche des aus

Vertretern von 25 Staaten bestehenden Weisungsgremiums des Exekutivausschusses berücksichtigend —, die dem Begriff „soziologischer Flüchtling“ überhaupt keine Rechnung mehr trägt. Während im Herbst 1954 noch 300.000 nichtangesiedelte Flüchtlinge innerhalb des Mandats des Hochkommissars in der ganzen Welt ausgewiesen werden, davon 85.000 in Lagern, konnte Dr. Lindt Ende 1958 berichten, daß sich diese Zahl auf 160.000 verringerte, davon rund 40.000 in Lagern. Tatsächlich dürften die soziologischen Flüchtlinge das zehnfache, wenn nicht gar das zwanzigfache ausmachen. Während es in Oesterreich noch vor einigen Jahren an die 150.000 Konventiojrsflüchtlinge gab, anerkennt heute das Hochkommissariat kaum noch 1200 (eintausendzweihundert!) Flüchtlinge als berechtigt, eine Hilfe aus dem UNREFF-Fonds zu beanspruchen.

. Zur österreichischen Flüchtlingssituation im UN-Rahmen wäre zu sagen, daß in den verflos- genen acht Jahren Gewaltiges geleistet wurde

• durch Rechtshilfe an die Staatenlosen, vor allem an die Fremdsprachigen,

• durch Mitfinanzierung von Siedlungsprojekten in allen Teilen Oesterreichs,

• durch wirksame Hilfe an „Härtefälle“,

• durch Zuwendungen an Altersheime für die Mandatsflüchtlinge,

• durch Förderung von Einzelfällen in allen Phasen der Eingliederung.

Eine gewisse Schwerfälligkeit des inzwischen stark angewachsenen Apparats — die statistische Abteilung des Oesterreich-Vertreters des UN- Hochkommissariats am Opemring in Wien zählt derzeit allein 14 Angestellte — scheint mit der konzeptionellen Linienführung des amtierenden Hochkommissars in Genf und wohl auch mit dem Umstand Zusammenhängen, daß es auch in den UN einen vielschichtigen Proporz gibt und die einzelnen mitzahlenden und daher auch mitbestimmenden Mitgliedsnationen in die verschiedenen Aemter der UN ihre Vertreter delegiert sehen möchten.

Daß das Verhältnis zwischen Hochkommissariat und den Flüchtlingen selbst immer noch ein bißchen gespannt war, liegt im Wesen dieser Partnerschaft; während das hohe Amt selbst an engmaschige Weisungen gebunden ist und aus begrenzten Finanzquellen gespeist wird, ist der einzelne Flüchtling begreiflicherweise kaum in der Lage und auch nicht gewillt, die Gesamtleistung zu würdigen, und fällt sein Urteil auf Grund persönlicher Erfahrungen und Beobachtungen aus seinem Alltag. Diese Erfahrungen aber scheinen ihm zu bestätigen, daß nur einem Bruchteil der Flüchtlinge geholfen wird, wenn man von der Rechtshilfe absieht, die das Hochkommissariat satzungsmäßig gewähren muß. Bei der jugoslawischen Flüchtlingsgruppe ist aber gerade diese dem Flüchtling durch die Konvention verbriefte Rechtshilfe im Zusammenhang mit der Asylgewährung beziehungsweise mit dem Abschub jener Neuflüchtlinge, die als „Wirtschaftsflüchtlinge“ deklariert werden, Gegenstand heftiger, leidenschaftlicher Angriffe auf das Hochkommissariat.

Tatsächlich wird kaum ein Flüchtling in ein anderes Herkunftsland hinter dem Eisernen Vorhang, nur Weil er die politischen Beweggründe seiner Flucht nach dem Westen der Kommission nicht glaubhaft darzulegen wußte, zurückgeschickt. Von den asylwerbenden jugoslawischen Neuflüchtlingen aber wurden zeitweise auch schon 80 Prozent und darüber abgewiesen, was praktisch einer Auslieferung an die Willkür Titos gleichkommt. Bei allen feierlichen Bekenntnissen zu erhabenen Idealen der Freiheit, Demokratie und Menschenwürde darf die einzelne leidende und bedrängte Kreatur nicht übersehen werden. Mit der Schlagzeile „Vielsagender Auftakt zum Weltflüchtlingsjahr" überschrieb kürzlich eine österreichische Flüchtlingszeitung die erschütternde Nachricht vom Selbstmord der 29jährigen Kroatin Marica Hrastovčak, die im Salzburger Polizeigefängnis den Tod wählte, weil sie eine Auslieferung an Jugoslawien befürchten mußte.

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