Menschen auf der Flucht: Ungenütztes Potenzial

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Negativ-Schlagzeilen zur Flüchtlingswelle haben Europa seit Monaten fest im Griff. Das Potenzial von Asylwerbern und Flüchtlingen für Österreichs Wirtschaft wird dabei meist übersehen und bleibt ungenützt.

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Negativ-Schlagzeilen zur Flüchtlingswelle haben Europa seit Monaten fest im Griff. Das Potenzial von Asylwerbern und Flüchtlingen für Österreichs Wirtschaft wird dabei meist übersehen und bleibt ungenützt.

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Ich bin angehender Deutschlehrer!" Schwarz auf weiß steht dieser Satz auf dem Schild, den ein junger Mann mit Stolz in die Kamera hält. "Ich habe eine abgeschlossene Ausbildung und studiere Software-Produktmanagement", schreibt ein Anderer. Unter dem Hashtag #ichwaraucheinflüchtling sind Positivbeispiele ehemaliger Asylwerber zu finden. "Moment, ich war auch ein Flüchtling!" - dieser Ausspruch oder vielmehr die darauffolgende Stille im Freundeskreis waren es, der die Initiatoren auf die Idee brachte. "Wir haben am eigenen Leib erfahren, was es heißt, Flüchtling zu sein", zeigen sie sich mit der Aktion solidarisch gegenüber denen, die gerade in der Situation sind. "Wir wollen auch zeigen, dass Flüchtling sein nichts Abfälliges ist", fügen die zwei, die anonym bleiben möchten, hinzu, "wir ehemaligen Flüchtlinge sind mittlerweile ein Teil der Gesellschaft, sind Beamte, Ingenieure, Angestellte, Fachkräfte. Wir leisten unseren Beitrag wie jeder andere auch." Nachsatz: Wenn er kann!

Verdammt zum Nichtstun

"Das Schlimmste für sie ist, nichts tun zu dürfen", weiß Gabriela Sonnleitner aus Gesprächen mit Flüchtlingen. Sie ist Co-Geschäftsführerin der Caritas Service GmbH, die unter der Dachmarke "magdas" Menschen mit geringen Job-Chancen Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft. So begrüßen im jüngsten Projekt der Gruppe, "magdas Hotel" beim Wiener Prater seit rund vier Monaten zwanzig anerkannte Flüchtlinge Hotelgäste in 21 Sprachen der Welt. "Die Sprachkenntnisse, Internationalität und Erfahrung in verschiedenen Kulturen" prädestiniert sie nach Ansicht der Caritas geradezu fürs Gastgewerbe. Außerdem ist es in der Branche leichter, als Ungelernter Fuß zu fassen und sich rasch zu qualifizieren, hofft Sonnleitner mit "magdas Hotel" auch dem Arbeitskräftemangel in der Hotellerie entgegen zu wirken. Für die Ausbildung der Zwanzig sorgen ein Berufs-Coach und elf Branchenprofis, ist es doch für viele der erste Job in dem Metier - wenn nicht der erste Job überhaupt. Abgesehen davon "sind wir ein normales Business und sicher kein Sozialbetrieb", stellt Sonnleitner klar. Genauso wie die Flüchtlinge auf ihrem Arbeitsplatz muss sich "magdas Hotel" beweisen: Fünf Jahre hat das Haus, um schwarze Zahlen zu schreiben und zu zeigen, dass soziale Probleme mit marktwirtschaftlicher Logik zu lösen sind. Und um einer politischen Forderung der Caritas und zahlreicher Organisationen Ausdruck zu verleihen: "Wer legal hier ist, soll legal arbeiten dürfen!"

Eine Forderung, die angesichts aktueller Flüchtlingswellen noch brisanter wird. Schon jetzt reicht ein Blick auf heimische Straßen, um zu sehen, dass Österreich ein Einwanderungsland ist: Jeder Fünfte hat Migrationshintergrund, in Wien ist es fast die Hälfte. Es sind Menschen, die auf dem österreichischen Arbeitsmarkt nicht nur Arbeit suchen, sondern auch Arbeitsplätze schaffen: Jeder dritte Unternehmensgründer verfügt laut Wirtschaftskammer Österreich über eine fremde Staatsbürgerschaft oder wurde im Ausland geboren. In Wien liegt der Anteil sogar bei 37 Prozent. Und doch befindet sich unsere Heimat in Sachen Integration laut einer Studie der Europäischen Kommission sowie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Vergleich aller Industrieländer nur im Mittelmaß.

Reformreife Gesetzeslage

Mit-Schuld daran hat die Gesetzeslage, kritisieren Hilfsorganisationen sowie die Arbeiterkammer Österreich. Offiziell dauert das Asylverfahren nur sechs Monate, tatsächlich braucht es oft Jahre, bis Flüchtlinge anerkannt werden. Jahre, in denen diese keiner bezahlten Tätigkeit nachgehen und sich nicht auf dem Arbeitsmarkt integrieren können. Nur Asylwerber unter 25 Jahren dürfen eine Lehre machen, allerdings ausschließlich in Berufen, in denen Lehrlingsmangel herrscht. Erwachsenen Asylbewerbern ist es zwar möglich, nach drei Monaten zu arbeiten - jedoch nur als Saisonarbeiter. Eine zusätzliche Barriere stellt die Zuverdienstgrenze dar: Wer mehr als 110 Euro verdient, läuft Gefahr, aus der Grundversorgung und somit aus der Krankenversicherung herauszufallen. Risiken und Mühen, die kaum ein Flüchtling, geschweige denn ein Arbeitgeber auf sich nimmt.

Wie ernüchternd der Versuch ist, musste auch Chocolatier Josef Zotter feststellen, der einen syrischen Asylwerber als Saisonarbeiter bei sich einstellen wollte. "Herr Acjeih stammt aus einer Familie, die eine kleine Schokoladenfabrik in Damaskus geführt hat, bis diese gesprengt wurde", erklärt der Unternehmer, "er wäre perfekt für unseren Betrieb gewesen." Wäre, denn trotz aller Bemühungen erhielt Zotter für die Fachkraft keinen positiven Bescheid und somit keine Anstellungserlaubnis. "Nach dieser Ablehnung darf Herr Acjeih noch nicht einmal mehr wie bisher im Betrieb zuschauen", zweifelt der Steirer am System, gibt aber nicht auf: "Wir warten nun auf einen positiven Asylbescheid. Danach kann er hoffentlich legal bei uns arbeiten."

Auch zahlreiche Social-Entrepreneur-Projekte haben das Problem erkannt und versuchen, Flüchtlingen eine Beschäftigungsmöglichkeit zu geben. Ohne Bezahlung, versteht sich. Das Projekt "Topfreisen" ist eines davon. Auf ihrer Weltreise hatte die Niederösterreicherin Cornelia Mayer die Idee für einen Lieferservice mit Gerichten zubereitet von Asylwerbern. Über die Einnahmen sollen Deutschkurse für die Flüchtlinge finanziert werden. Mittlerweile sind die ersten Caterings ausgeliefert, und es wird an Routinen gearbeitet. Bei den Asylwerbern des Zentrums St. Gabriel kommt das gut an: "Sie sind dankbar für die Aufgabe, können ihre Deutschkenntnisse verbessern, und das Essen schmeckt hervorragend", freut sich die Sozialarbeiterin, gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. "Topfreisen" soll sich in Zukunft über das Thema Essen hinaus entwickeln: "Die Asylwerber könnten nicht nur Gerichte, sondern auch ihre Geschichte, Ausbildung und Knowhow einbringen."

Potenzial, das für die Wirtschaft schnellstmöglich zu Verfügung stehen sollte. Dafür bräuchten Flüchtlinge aber nicht nur nach sechs Monaten unbegrenzten Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt. Die Arbeiterkammer Österreich plädiert dafür, schon die Zeit davor zu nutzen. Durch Deutschkurse oder die Vermittlung von Zusatz-Qualifikationen könnten Flüchtlinge rascher, vor allem effizienter auf dem Jobmarkt platziert werden. Bisher braucht es aber oft "jahrelangen Einsatz des oder der Betroffenen, bis seine beziehungsweise ihre Talente und Qualifikationen entsprechend zur Geltung kommen", konstatiert der UNHCR in seinem Bericht "Refugee Integration in Austria" 2013. Das verdeutlichen auch die Zahlen: 39 Prozent aller Immigranten in Österreich arbeiten Studien zufolge in Positionen weit unter ihrem Qualifikationsniveau. Damit zeigt unser Land eine der höchsten Raten in der Verschwendung von Potenzial in der OECD. Gründe dafür sind einerseits, dass viele Flüchtlinge ihre Aus-und Weiterbildungen nicht nachweisen können. Andererseits wurde in Österreich bisher verabsäumt, die Qualifikationen der Asylwerber ausreichend zu evaluieren und zu dokumentieren.

Sanitäter, Konditor, LKW-Fahrer

Letzteres versuchen derzeit gleich zwei Projekte: So hat sich nicht nur die Arbeiterkammer Wien zum Ziel gesetzt, die Kompetenzen von Flüchtlingen systematisch zu erheben (siehe Interview). Auch das Land Tirol hat im Juli begonnen, ihr Potenzial zu erfassen, um es an die Freiwilligenzentren zu übermitteln und den Flüchtlingen so die Möglichkeit zu geben, sich zumindest gemeinnützig zu betätigen. Die Kompetenzen der Asylwerber reichen vom Konditor über Sanitäter oder LKW-Fahrer bis hin zur Schneiderin oder EDV-Techniker. Wie groß die Bereitschaft für freiwilliges Engagement bei den Flüchtlingen ist, zeigte sich Anfang Juni, als schwere Unwetter in Tirol hohe Sachschäden verursachten. "Dutzende Asylwerber haben sich spontan freiwillig gemeldet, um nach den Unwettern in Sellrain und See im Paznaun bei den Aufräumarbeiten zu helfen", berichtet Landeshauptmann Josef Platter und weiß: "Viele haben eine große Bereitschaft, sich in der Gemeinschaft zu integrieren und aktiv mitzuarbeiten." Es ist ein Anfang. Denn wie heißt es in der Expertise des UN-Flüchtlingswerk: Integration gelingt dort, wo Asylsuchende im besten Fall unbegrenzten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, zumindest aber einen Beitrag für die Gesellschaft leisten können. Wie jeder andere auch.

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