Umstrittene "Erlebnispädagogik"

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Ein "erlebnispädagogisches" Projekt des Linzer "Zentrums Spattgasse" in der Wüste Sinai endete mit einem Fiasko. Die Soziologieprofessorin Irene Dyk plädiert dafür, solche Projekte für sozialgeschädigte Jugendliche dennoch nicht gleich wieder zu verteufeln.

Catrin ist heute 35 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Sie hat sich mit ihrem man eine schon fast mehr als gutbürgerliche Existenz aufgebaut, einen kleinen, aber feinen Laden in einem oberösterreichischen Bezirksstädtchen. Vor knapp 20 Jahren hätte - außer den Mitarbeitern des Zentrums Spattstraße - kaum jemand gedacht, dass Catrin anderswo als in der Psychiatrie oder im Gefängnis landen könnte - mit Zwischenstation auf dem Strich. Catrin war eines der ersten Mädchen, das an einem Törn mit dem erlebnispädagogischen Schiff Noah teilnahm, und wenn man sie heute nach ihren Erfahrungen damals befragt, sagt sie: "Ich bin selbstbewusst geworden. Selbst-bewusst. Ich habe gelernt, wer ich bin, dass ich überhaupt jemand bin, und dass ich etwas kann. Viel sogar."

Und Catrin hat auf dem Schiff wirklich viel gelernt. Dass zwölf Menschen wochenlang auf engem Raum leben können, ohne einander die Augen auszukratzen. Dass man wochenlang ohne Alkohol und Drogen auskommen kann, und dass es sich nicht lohnt, anderen das Taschengeld zu klauen - weil es früher oder später auffliegt in der kleinen Gruppe. Dass man einen Landgang in einen Hafen machen kann, ohne mit dem nächstbesten Jungen in einem Hausflur zu landen.

Catrin hat aber auch gelernt, mit einem Betreuer einen Wochenspeiseplan für zwölf Personen zu entwerfen, einzukaufen, mit einem zweiten Mädchen sieben Tage lang zwölf Personen zu bekochen und die Kritik auszuhalten, wenn es nicht allen geschmeckt hat. Sie hat gelernt, Wasser aus dem Motorraum zu pumpen, die zerrissene Fock zu flicken, geplatzte Fender zu vulkanisieren, und nach dem Trockenfallen des Bootes im Watt den Anker so zu platzieren, dass man ihn später einholen konnte. Irgendwann war beim Segelreffen niemand so schnell wie sie, und manchmal durfte sie den Steuermann in der Kaffeepause ablösen. Vor allem aber: sie war an Bord, als die Noah wochenlang überholt werden musste. In der Zeit ist sie eine fast perfekte Tischlerin und Anstreicherin geworden - Fähigkeiten, die ihr heute in ihrem eigenen Geschäft zugute kommen.

Ein Märchen? Kein Märchen. Natürlich hat es mit ihr auch auf dem Schiff Ärger gegeben, Streitereien, Lügen, kleine Raufereien, und einmal musste man sie zwei Tage und Nächte suchen, bis man sie wieder an Bord hatte. Und nach dem mehrmonatigen Törn ging auch nicht gleich alles glatt. Den ersten Arbeitgeber an Land hat Catrin noch mit einem Eigentumsdelikt enttäuscht, aber nur einmal. Er hat ihr angedroht, sie beim zweiten Mal "über die Reeling zu werfen" - die Sprache hat sie verstanden und ohne weitere Probleme ihre kaufmännische Lehre abgeschlossen. Bei der Abschlussfeier hat sie ihren man kennengelernt. Ja, und zu Weihnachten schreibt sie mir noch immer, schickt kitschig-schöne Fotos von ihren Kindern.

Fotos: das hat einen Grund - ich war bei diesem Törn ein paar Wochen dabei, und sie hatte es unter anderem (erfolglos) auf meine Kamera abgesehen. Für eine junge Soziologin, Publizistin und sozusagen "ständige freie Mitarbeiterin" des Zentrums Spattstraße war das erlebnispädagogische Projekt Noah mehr als eine Herausforderung.

Seit damals bin ich - und mittlerweile durchaus auch wissenschaftlich begründet - Anhängerin der Erlebnispädagogik. Eine derartig radikale Veränderung der alltäglichen Situa-tionsanforderungen und ein so tiefgreifender Paradigmenwechsel eröffnen Chancen, die die fundierteste Heimerziehung, Arbeit in Wohngemeinschaften oder ambulante Betreuung nicht bewerkstelligen können. Es geht dabei für alle - auch für die Betreuer - immer um ein "bei 0 anfangen". Egal ob am Meer, in den Bergen oder in der Wüste. Es geht um das Schaffen von Strukturen, Identitäten, Verhaltensmustern - jenseits der ausgetretenen Pfade. Es geht um Emotionen, Optionen, Interpretationen, und auch um Versuch und Irrtum. Wenn alles planbar, voraussagbar, kontrollierbar ist, ist es nicht Erlebnispädagogik. Erlebnis heißt immer auch Abenteuer und Risiko - und dass etwas schiefgehen kann. Manchmal sogar muss - weil Krisen wesentliche Bedingungen für Chancen sind. Wenn es sich nicht gerade um fahrlässig herbeigeführte Krisen handelt - und das ist eine Frage von sozialarbeiterischer und pädagogischer Professionalität.

Natürlich sollte Pädagogik im öffentlichen Auftrag - in Schulen, Heim-, Arbeits- und Wohngemeinschaftsprojekten, und vor allem wenn es um "verhaltensauffällige" Jugendliche geht, in höchstem Maße professionell sein. Und das gilt besonders dann, wenn es um extrem schwierige Jugendliche und um Pädagogik in Extremsituationen geht. Aber jede Art von Pädagogik, auch das, was in der Familie geschieht, ist immer ein Stück Abenteuer und Risiko. Und es kann - auch und unter besten Voraussetzungen - Unkalkulierbares passieren. Auch dann, wenn ausgewiesene Therapeuten, Gruppendynamiker, Psychologen oder diplomierte Sozialarbeiter am Werk sind.

All das sagt nun nicht, dass beim nun vieldiskutierten "Wüstenprojekt" keine Fehler begangen wurden: Planungsmängel und Mitarbeiterdefizite in Bezug auf Qualifikation und Kooperation mag es gegeben haben - ebenso wie fatale Inkompetenz in Bezug auf den Umgang mit Rechtsfragen und Öffentlichkeitsarbeit. Wahrscheinlich hätte es von Anfang an für solche Unterfangen einen klar definierten, offiziell abgesegneten und rund um die Uhr erreichbaren Krisenstab geben müssen - aber wie die kürzlich erst erfolgte Reaktion der Landeshauptleute auf diverse (Natur- und andere) Katastrophen gezeigt hat, ist derlei auch in der großen Politik erst eine Vision.

Aber: erlebnispädagogische Projekte - des Zentrums Spattstraße oder andere - damit generell zu schubladisieren, hieße mehr als das Kind mit dem Bad ausschütten. Und zu sagen, man könne denselben Effekt - die Selbstfindung, die Aktivierung und Stabilisierung - von Problemjugendlichen bei Hüttenwanderungen im Hintergebirge oder einem Campingaufenthalt am Mondsee erreichen, ist mehr als naiv. Die "Herausforderung" - für Jugendliche und Betreuer - entspräche dann in etwa einer üblichen Landschulwoche. Jeder Schulpädagoge wird bestätigen, dass derlei zwar der Gruppenintegration dienlich ist, aber nicht sehr viel mehr.

Erlebnispädagogik ist viel mehr. Es ist das Umgehenlernen mit fremden und außergewöhnlichen Situationen, um letztendlich ganz "normale" Probleme selbstbewusst zu meistern.

Erfahrungswerte und Weiterbildungskurse sind zu wenig, kritisiert der Kinder- und Jugendpsychiater Professor Max Friedrich. Er plädiert für eine fundierte Ausbildung, die es in Österreich für Erlebnispädagogen immer noch nicht gibt.

die furche: Herr Professor Friedrich, ist das gescheiterte Wüstenprojekt ein Einzelfall oder produziert die Erlebnispädagogik immer wieder solche erschreckenden Ergebnisse?

Professor Max Friedrich: Das waren schlimme Einzelfälle, aber immerhin wurden vier junge Menschen zu Gefängnisstrafen verurteilt. Und es ist eben die Frage, ob alles Menschenmögliche getan worden ist, um so etwas zu verhindern. Dass es passieren kann, ist klar. Sie können ja auch nicht ein Tötungsdelikt aus der Welt wegzaubern. Es wird auch morgen oder übermorgen wieder jemand tödlich verletzt oder umgebracht werden.

die furche: Das "Zentrum Spattstraße" in Linz, ein sozialpädagigsches Institut des Diakoniewerkes, hatte doch schon viel Erfahrung auf dem Gebiet.

Friedrich: Es ist auch das letzte Wüstenprojekt schiefgegangen, das ist also kein erstmaliger Vorfall. Aber jedes erlebnispädagogische Projekt birgt die immense Gefahr in sich, dass es aus dem Ruder laufen kann. Hier hat man es mit problematischen Menschen zu tun, dazu kommen nicht vorhersehbare Situationen. Daher kann man hier keine Fixmuster stricken. Es geht um Jugendliche, die in schrecklichen Situationen aufgewachsen sind und deren Erfahrungsschatz anders ist als der der Pädagogen. Vieles ist nicht vorhersehbar und bedarf eines sehr hohen Maßes an Flexibilität, dynamischer Bindungsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit und die Kunst des Improvisierens. Was machen Sie, wenn Sie in der Wüste an ein Wasserloch kommen, und es ist kein trinkbares Wasser drinnen? Oder: Sie fahren mit einem Schiff durch die Straße von Gibraltar und der Hauptbetreuer wird seekrank ...

die furche: Im Prozess haben Sie als Sachverständiger schwere Mängel aufgezeigt. So fehlte den drei Sozialarbeitern eine Spezialausbildung für Erlebnispädagogik, die Vorbereitungsphase war zu kurz und die Jugendlichen sind den extremen Strapazen nicht gewachsen gewesen. Es stellt sich schon die Frage, ob überhaupt die Richtigen vor Gericht stehen?

Friedrich: Ich bin Sachverständiger und darf damit die Frage nicht beantworten. Aber damit haben Sie auch eine Antwort.

die furche: Wer ist wirklich verantwortlich?

Friedrich: Die Verantwortung ist bei Gericht ganz klar geklärt worden. Ob und welche Konsequenzen darauf folgen, das wird Aufgabe der oberösterreichischen Landesregierung sein, weil sie hat ja einen Bescheid erlassen, dass dieses Projekt unter den vorgegebenen Bedingungen stattfindet. Das sind klare Bedingungen, die auch bei Gericht vorgelegt und vorgelesen worden sind.

die furche: Das Land Oberösterreich hat ja bereits Konsequenzen gezogen. Man werde sich fragen, hieß es, ob solche Projekte nicht ohnehin auch in Österreich durchführbar sind. Es war ja zu Prozessbeginn von einer halben Millionen Schilling Kosten die Rede.

Friedrich: Also, über die Kosten mag ich nichts sagen, denn die haben mich auch sehr erschreckt. Es war sogar viel mehr als Sie jetzt sagen ...

die furche: Wieviel?

Friedrich: 1,4 Millionen Schilling. Aber: das Problem ist nicht die Summe und auch nicht, wie das Geld verwendet wird. Die Frage ist: was soll im Rahmen der Erlebnispädagogik erreicht werden? Man möchte Jugendliche zu sich selbst, also an ihre Ich-Strukturen, heranführen und zwar auf vier Ebenen: sie sollen gefordert werden, auch körperlich. Sie sollen intellektuell angeregt werden, um zu planen und Strategien zu entwickeln, vorauszudenken und Handlungsfolgen abzuschätzen. Sie sollen eine emotionale Bindungsfähigkeit in der Gruppe und an die Betreuer bekommen. Und - sie sollen sozial so weit kommen, dass sie sich bewußt werden, dass sie kein Einzel-, sondern Gemeinschaftswesen sind. Das heißt, dass sie nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere Verantwortung tragen. Das ist das Ziel, und das zu erreichen wäre optimal.

die furche: Das geht nur in der Wüste oder auf einem Schiff?

Friedrich: Ja, weil sie dort viel mehr auf sich selbst geworfen sind als anderswo. Und weil die Ausbruchsmöglichkeiten geringer sind. Wenn Sie so etwas in Wiener Neustadt machen, dann ist der Weg zurück nach Wien in die Untergrundszene leicht. Das geht ganz einfach mit einem gehobenen Daumen auf der Autobahn. Aber in der Wüste oder auf dem Meer sind die Jugendlichen ganz auf das Existentielle des menschlichen Lebens zurückgeworfen.

die furche: Sie sprachen im Prozess auch von einer "sagenhaften Vorbereitungspfuscherei". Gibt es keine klare Vorgaben?

Friedrich: In Österreich gibt es keine Ausbildung für Erlebnispädagogen, das heißt, die sind in einer problematischen Grauzone angesiedelt. Es gibt Fortbildungen und Erfahrungswerte, aber keine Ausbildung. Eine solche würde ein Curriculum und eine entsprechende Zertifizierung verlangen. Beides liegt noch nicht vor.

die furche: Wie viele erlebnispädagogische Projekte sind bis jetzt geglückt?

Friedrich: Das ist schwer zu sagen, weil sich die Projekte schlecht miteinander vergleichen lassen. Es gab einige in Island und Irland, in der Wüste und auch mehrere Schiffsprojekte. Ich habe mit meiner Klinik auch einige gemacht. Allerdings nur in Österreich und bescheidener, nämlich auf einer einsamen Berghütte. Aber die echten Erlebnispädagogen sagen, so etwas ist ja nicht mehr als ein Spazierengehen im Gebirge.

die furche: Werden Sie nicht in der Zwischenzeit von verständnislosen Eltern gefragt, warum hier so viel Geld ausgegeben wird, während die unauffällige Durchschnittsfamilie oft nur wenig Unterstützung bei Problemen erfährt?

Friedrich: Solche Fragen kommen mit Sicherheit. Ich meine auch, dass sie berechtigt sind. Aber man muss auf der anderen Seite immer auch die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft mitkalkulieren. Dazu gehören sozial verwahrloste Kinder. Wenn wir uns schützen wollen und sie nicht einfach nur wegsperren wollen, dann sind wir verpflichtet, ihnen die bestmögliche Betreuung angedeihen zu lassen. Wenn wir ihnen mit solchen Projekten die Möglichkeit bieten, dass sie sich wieder auf den rechten Weg kommen, dann haben wir Gutes getan und das Geld ist nicht hinausgeschmissen.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

"Wüstenerlebnis" mit bösen Folgen

Sie sollten nur "Nomaden auf Zeit" sein. Vergangene Woche wurden sie wegen Mordversuches und versuchten Raubes in Linz zu teilbedingten Gefängnisstrafen von zwei bis drei Jahren verurteilt. Die vier - teilweise vorbestraften - Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren versuchten bei einem achtwöchigen wüsten-pädagogischen Erziehungsexperiment in der Wüste Sinai ihre österreichischen und ägyptischen Begleiter zu überfallen und "auszuschalten". Drei Beduinen wurden mit Steinen attackiert und verletzt. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Der Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Professor Max Friedrich sprach als Sachverständiger beim Prozess von einer "Vorbereitungspfuscherei, die sagenhaft ist". Das Land Oberösterreich hat als Kostenträger bereits Konsequenzen angekündigt. Das Wüstenprojekt werde es nicht mehr geben. "Die Jugendlichen sollen sich in unseren Breiten bewähren und lernen, hier zurecht zu kommen" sagte der zuständige Landesrat Josef Ackerl.

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