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Unter dem „Fünferradi“

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UNTER DEM WETTERMANTEL, von dem unablässig der Regen abtropft, blinkt beim raschen Gehen ein weißer Saum. In den grauen Spitalshöfen, deren trostlose Architektur selbst von einem Kranken stammen könnte, sind die weißen Säume, die unter den Wettermänteln hervorscheinen, die einzigen Lichtblicke. Das Weiß der Aerzte- und Schwesternmäntel bleibt jetzt dem Tage und der Oeffentlichkeit verborgen. Nur wenn die Sonne scheint und einen vergeblichen Kampf gegen die düsteren Fronten der Krankenkasernen führt, wenn die ersten Frühlingstage ins Land kommen, dann kann es sein, daß Fahrgäste auf den Straßenbahnlinien 49, 43, 5, H 2, E 2, G 2, F, 41, C, 65, 67 und der Stadtbahn sowie auch der Südbahn die weißen Mäntel zu sehen bekommen. Aber ansonst ist das Leben der Krankenschwester mehr noch als jenes der Aerzte dem Blick der Oeffentlichkeit entzogen. Man hört nur von den Schwestern, wenn — wieder einmal — die Klage geht, es gebe eine zu hohe Stundenzahl des Dienstes, es fehle der Nachwuchs, es hapere mit der gerechten Entlohnung.

FANGEN WIR MIT DER DIENSTZEIT AN. Die Schwester, die eben mit gerötetem Gesicht auf den Gang des Hanusch-Krankenhauses tritt und glaubt, wir fragten nach einem Patienten, ist eigentlich nicht erstaunt, einem Journalisten zu begegnen. „Von Zeit zu Zeit sind immer welche bei uns", sagt sie und setzt gleich fort: „Natürlich selten als Patienten; einer hat mir vor Jahren einmal gesagt, die Journalisten haben keine Zeit, krank zu sein." Sie lacht dazu. „Aber dann gehen die paar, die Artikel schreiben, fort — und es ändert sich nichts. Die Arbeitszeit? Ja, Sie wissen vielleicht, was das ,Fünferradi' ist — nein? Also das ist sozusagen der Puls des Dienstes. Jede Schwester hat zwei Tage Dienst, jeder Tag u zwölf Stunden; einen Schlaf tag; dann zwölf Stunden Nachtdienst, einen ScÖaf- tag; und dann einen freien Tag für die Woche, die gerade läuft.“ Die Nachtdienste haben es in sich. Besonders bei starkem Belag, wenn 3 5 bis 40 Patienten versorgt werden wollen. Das bedeutet praktisch kaum fünf Minuten wirklich Ruhe. Vom Schlafen, wie sich das Laien vorstellen, ganz zu schweigen. Wenn man auch nur drei Stunden eines solchen Nachtdienstes verfolgt hat, dann ist man froh, das Weite suchen zu dürfen.

SETZEN WIR MIT. DER BEZAHLUNG FORT, nachdem wir uns damit abfinden mußten, daß in einer Zeit, die nach der 45- und 40-Stunden- Woche schneit, Frauen bis zu 60 Stunden wöchentlich abzuleisten haben. Das Lohnschema sieht für eine diplomierte Krankenschwester, die eben von der Ausbildung kommt, 1550 Schilling vor. Das wäre an sich nicht so schlecht, wenn man bedenkt, daß wissenschaftliche Assistenten an Hochschulen mit 1200 Schilling anfangen. Aber man muß die Verantwortung der Schwestern berücksichtigen. Am Operationstisch — wir sehen durch das geschlossene Fenster vom Nebenraum in grelles, strahlendes Weiß — wird die größte physische und psychische Konzentration verlangt. Bei einem Narkosezwischenfall ist selbstverständlich auch die Schwester mithaftbar. Aber sehen wir vom Operationsraum ab. Auch im Krankenzimmer verlangt man stete Beobachtung des Befindens eines Kranken.. Es kann von der rechtzeitigen Verständigung an den diensthabenden Arzt ein Menschenleben abhän- gen, und nicht einmal, so sagt man draußen im Süden der Stadt, hat eine einzige Minute den Ausschlag gegeben. 15 50 Schilling zum Ersten! Bedenken wir weiter, daß die Umgebung, in der die Schwestern arbeiten, eine auch für kräftigere Gemüter auf die Dauer belastende Wirkung ausübt. Man kann sich zehnmal frühmorgens, wenn man ins „Allgemeine“ kommt und durch die Flucht der Höfe geht, mit Erwartung panzern; ich versuchte es als medizinischer Laie während des Krieges monatelang — aber man kann an fremden Leiden nicht steinern Vorbeigehen. Man hat eben Augen im Kopf und sieht die Blutlachen auf dem Boden, bevor sie aufgewischt werden; man hört das Jammern von einem Saal in den andern. Gewiß: die Krankenschwestern wußten, als sie ihren Beruf erwählten — und zu diesem Beruf muß man im wahrsten Sinne berufen sein —, was sie erwarten würde. Aber der Mensch ist keine Maschine, und das Rasseln eines menschlichen Atems ist für das mitfühlende Herz eben' lauter als das von zehn Spinnerei- maschinen. Diese spinnen Gewebe. Am Atem spinnt das Leben, um seinen Hauch schleicht der Tod.

UND DANN KOMMT DER URLAUB. Auch eine Sache für sich. Man sollte erwarten, daß nach einem derart angestrengten und verantwortungsvollen Dienst für die Allgemeinheit besondere Begünstigungen vorhanden sind. Nach sechsmonatiger Dienstzeit gibt es zwölf Werktage, nach fünf Jahren 18 und nach zehn Jahren 24 Tage Urlaub. Das ist zuwenig. Es wären nach einem Jahr Dienst wenigstens IS Tage und nach fünf Jahren 24 Tage Urlaub zu geben. Es fehlt neben einer ausreichenden Urlaubsplanung — die natürlich vom Personalstand abhängt, über den wir gleich sprechen werden — auch an einer allgemeinen Gefahrenzulage. Also nicht allein die Schwester, die als Röntgenassistentin wirkt, sondern auch die Angestellten, die beispielsweise in den verschiedenen Sparten der Kranken gymnastik arbeiten, auch dort, wo mit Elektrotherapie vorgegangen wird, und an speziellen Fachinstituten, wo Infektionsgefahr vorliegt, müßten neu eingestuft werden. Hierher gehören auch die Sonderheilstätten, vor allem für Nervenkranke, Anstalten, von wo aus der Urlaub einer besonderen Regelung unterworfen sein sollte. Wer etwa anderer Meinung ist, möge eine Trinkerheilstätte oder eine Psychiatrie besuchen, um dort die Schwestern unter Verhältnissen arbeiten zu sehen, die einfach unbeschreiblich sind.

KRANKENPFLEGE ALS HUMANITÄRE AUFGABE bedarf starker seelischer und charakterlicher Kräfte. Das kann man immer wieder und in hervorragendem Maße an den geistlichen Ordensschwestern beobachten. Allein, man soll von ihnen und ihrer religiösen Hingabe nicht alles erwarten. Der Leiter des Preyerschen Kinderspitals hat vor geraumer Zeit eindeutig klargestellt, daß Unzukömmlichkeiten in der Krankenpflege in direktem Verhältnis zum Personalmangel stehen. Diese Zustände sind auch im Wiener Gemeinderat zur Sprache gekommen. Es wurde Anfragern erwidert, daß die Lösung des Problems der Krankenschwestern nicht nur sachliche Widerstände erfahre, sondern in ebensolchem und vielleicht höherem Maße eine personelle Angelegenheit darstelle. Nun kann beispielsweise in Wien der Verantwortliche für das Gesundheitswesen, dem redlicher Wille nicht abgesprochen werden soll, von sich aus nicht zusätzliche Kräfte einstellen. Er ist vom Personalreferenten abhängig. Und wenn man zu dieser wichtigen Schlüsselposition vordringt, wird man unter neun von zehn Fällen hören, daß „leider“ der Personalreferent vom Finanz- referenten abhänge. Es ist ungefähr dasselbe Spiel wie in Schulangelegenheiten zwischen den Ministerien. Der Finanzreferent, gewiß ein mächtiger Herr, wird nach Vorhalt aller Einwände mit Sicherheit den zuständigen Gemeinde- 4 ratsausschuß zitieren. So geht es natürlich auf die Dauer nicht weiter. Nun, immerhin ist ein neuer gesetzlicher Rahmen vorgesehen, der die Ausbildung der Krankenpflegerinnen regelt. Das Eintrittsalter soll nicht wie bisher 18, sondern 17 Jahre betragen. Zu einer weiteren Herabsetzung dės Alters konnte'man sich' nfdht erits schließen. Wien verfügt gegenwärtig über ungefähr' 5000 Pflegerfttfleh. Jährlich ''scheiden etwa 300 infolge Alters und Verheiratung aus, 250_kommen neu dazu; es ergibt sich also im gegenwärtigen Bestand bereits ein Personaldefizit. Nun haben sich heuer bereits mehr Mädchen als sonst für den Pflegeberuf interessiert; es konnten aber nicht alle berücksichtigt werden, weil es zuwenig Schwesternschulen mit entsprechendem Fassungsraum gibt. Jetzt könnte man das Instanzenspiel fortsetzen und sagen, es liege am Verantwortlichen für das Bauwesen in Wien und bei den entsprechenden Länderstellen. Dann wird sich zweifellos der Ring schließen, es werden die Bauverantwortlichen wieder auf den Finanzreferenten verweisen, sofern sich nicht, wie in Wien, noch der Ausweg auf die Stadtplanung, auf die in den Wolken liegenden Kliniken usw. für Ausreden eröffnet.

MAN SOLLTE SICH ENDLICH DARAUF BESINNEN, daß Wien einen Großteil seines Rufes in der Welt — von dem eines Kulturträgers abgesehen — durch die Wirksamkeit als pädagogisches Zentrum errungen hat; daß in die Lehrtätigkeit nicht allein die wissenschaftlichen Kanzeln der Kliniken gehören, sondern das Vorbild des Menschentums, das anonyme, das eminent soziale Empfinden im Krankenpflegeberuf, die zusammengeholfen haben, daß Wien lange Zeit als medizinisches Weltzentrum galt. Man muß daher über die Lage und die Ausdehnung von Schwesternschulen im klaren sein, bevor man die Errichtung von Spitälern vorantreibt. Man muß die Dienstordnung großzügig novellieren. Man muß die Altersgrenze herabsetzen. Man muß bereits während der fünf- bis sechsmonatigen theoretischen Einschulung genügende Erholungspausen gewähren, einen seelischen Ausgleich schaffen durch Besuch von Ausstellungen, Konzerten, Theatern, die kostenlos zugänglich sein müssen. Die Urlaube sind zu verlängern, die Taschengelder während der Ausbildungslehrgänge (150 bis 300 Schilling) mindestens zu verdoppeln. Der Sozialtourismus sollte sich der Krankenschwestern durch besondere Begünstigungen annehmen. Es sind eigene Erholungsheime für gefährdete Pflegesparten einzurichten und diese Erholungsurlaube nicht in den Urlaub einzurechnen. Das Leben ist kein „Fünferradi". Wer hilft, wer Schmerzen lindert, wer sich als Mensch zurücksetzt, verdient keine Mechanik, hat Anspruch auf opferbereite Förderung durch die Gemeinschaft.

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