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Medizin für Mediziner gesucht

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Die erste aktuelle Pressediskussion, die auf breitester Basis in der Oesterreichischen Aerzte- kammer stattfand, hat sich eine Tagesordnung gestellt, deren einzelne Punkte jeder für sich schon allein ausgereicht hätte, stundenlang diskutiert zu werden.

• Frage 1: „Wo liegen die Schwierigkeiten zur echten Reform und Sanierung der Krankenkassen in Oesterreich?"

• Frage 2: „Besteht ein Aerztemangel oder Ueberschuß an Aerzten in Oesterreich?“

• Frage 3; Memorandum der Aerzteschaft an die politischen Parteien.

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Die Fragen einer Sanierung der Kassen und einer Reform der Sozialversicherung werden oft miteinander gekoppelt oder sogar vermengt. Es ist zunächst als Ergebnis der Konferenz festzuhalten, daß die Krankenversicherung als eine soziale Einrichtung (die, in Oesterreich organisch gewachsen, sich schwer auf ausländische Systeme umstellen lassen wird) , von allen Sprechern bejaht wird. Wenn es zu einer Krise der Versicherung gekommen ist, dann liegen die Schuldfragen viel zu differenziert, um apodiktisch ein Urteil zu fällen. Die Menschen, so sagt man, laufen wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt. Die Menschen, so behauptet man weiter, konsumieren zuviel Medikamente. Die Menschen, so. wird weiter gesagt, sind behext von der pharmakologischen Propaganda und von der Idee einer Allgemeinhaftung. Dazu ist zu sagen: Die Meinungsbildung — ob von der Presse her, vom Rundfunk, vom Fernsehen und von der ansehnlichen Zahl populärwissenschaftlicher Vorträge — liegt unter dem Druck einer Angst. Der. Angst als psychologisches Phänomen, erwachsen aus dem Zeitgefühl überhaupt, wird man weder mit einer Sanierung der Kassen noch mit einer gesetzlichen Reform der Sozialversicherung beikommen, Diese Angst, krank zu sein oder krank zu werden, erwächst zunächst aus den; jLIebergewicht matmgjler , Komplexe.

Mehr zu verdienen, schneller zu verdienen, bald zum Wohlstand zu kommen, hetzt die Menschen, versetzt sie in Sorge, in Neid, in Haß. Hier werden weder die Paragraphen und die Abgeordneten zum Nationalrat noch die Experten der Kassenverwaltung Rat finden. Hier hat die Erziehung, und zwar von Grund auf, das Wort: die Schule, die Erwachsenenbildung, die Seelsorge. Die Angst vor der Krankheit und, auch das kommt ja immer wieder vor, die Flucht in die Krankheit sind zeitpsychologische Probleme, die zudem erheblich von der politischen Weltlage abhängen. Je mehr von Sicherheit durch Raketenwaffen und Raketenbasen geredet und geschrieben wird, desto unsicherer fühlen sich die Menschen. Sie glauben an die Umwelt nicht, weil sie weitgehend durch die Erlebnisse der Vergangenheit den Glauben an die Vernunft der Weltpolitik verloren haben. Sie schlucken Pulver, weil sie Pulver gerochen haben.

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Die Vorschläge zur Sanierung gehen auseinander. ln der Diskussion haben Primarius Doktor Schnardt.die staatliche Subventionierung, Präsident Dr. Niederberget und andere eine Selbstbeteiligung des Patienten gefordert. Ohne eine, wenn auch begrenzte Hilfe des Staates dürfte es schon deswegen kaum gehen, weil der Krankenversicherung durch die ärztliche Versorgung der Rentner eine schwere Last aufgebürdet wurde und zudem die Kassen mit der Prophylaxe ihren Wirkungskreis immer mehr erweitern. Niemand wird bestreiten, daß die fahrbaren Untersuchungsstätten, die Heilstättenbehandlung, das Durchleuchten, die Zahnkontrollen bis zu den Lehrlingen und Schulkindern heute unentbehrlich geworden sind. Es sieht freilich für den ersten Blick aus, als sei ein riesiger Apparat in Bewegung, dessen augenblicklicher Effekt gering ist. Später aber, wenn die Jugendlichen im Erwerbsleben stehen, zeigt sich der Wert einer vorbeugenden Gesundheitspflege. Hier zu sparen, hieße von Jahr zu Jahr erhöhte Beträge für Renten ausgeben zu müs- sen — aus dem Titel vorzeitiger' Berufsunfähigkeit. Ein Beitrag des Staates wird daher nötig sein. Er erntet selbst die Früchte.

Die Fünfschillinggebühr kann als gewisse Selbstbeteiligung angesehen werden. Auf der einen Seite betrachtet man die berühmte Marke als Mittel der Selbsterziehung, auf der anderen wollen die Behauptungen nicht verstummen, daß die Patienten verspätet zum Arzt gehen. Indes liegen über die Auswirkungen der Fünfschillinggebühr, wie wir hörten, noch keine, für das gesamte Bundesgebiet verwertbaren Zahlen vor. Die Frequenz der Ordinationen dürfte sich im Durchschnitt kaum geändert haben. Neben der Fünfschillinggebühr wurde die vermehrte Geldbeschaffung für die Kassen durch die Erhöhung der Höchstbemessungsgrundlage, die gegenwärtig bei 2400 S liegt, auf 3600, wie bei der Sozialversicherung oder noch darüber hinaus, diskutiert. Es leuchtet ein. daß für den Familienerhalter der Krankenkassenbeitrag — wie überhaupt die Gefährdung der wirtschaftlichen Lage durch Krankheit — bei einem Durchschnittslohn von 2000 S schwerwiegender ist als für den, der ein Monatsgehalt von 4000 S bezieht.

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Ob es einen Aerztemangel in Oesterreich gibt? Gewiß, in den Spitälern der Bundesländer ist im Vergleich zu dem Aerzteüberschuß vor dem Kriege eine Differenz zu merken. Bis 1957 haben die Spitalserhalter den in Ausbildung stehenden Aerzten nur eine relativ geringe Bezahlung gewährt und führten den Betrieb mit Gastärzten und Stipendiaten weiter. Immerhin sind jetzt schon Anzeichen dafür vorhanden, daß systemisierte Posten schwerer Anwärter finden. Würde man endlich der Frage von Wohnbauten für in der Provinz tätige Aerzte jenes Augenmerk zuwenden, das nötig erscheint, dann gäbe es jene seltsamen Flecke in der Landkarte nicht, die — trotz der von internationalen Organisationen behaupteten vorbildlichen Dichte der ärztlichen Versorgung — nachweisen, daß für die in den Landbezirken und Landstädten tätigen Mediziner hinsichtlich des verkehrstechnisch richtig gewählten Platzes für Wohnbau zuwenig getan wird. Man kann auch nicht übersehen, daß in Wien allein 507 Aerzte auf Kassenverträge warten; daß im Vorjahr fast ein halbes Hundert Aerzte nach Schweden ausgewandert ist (und dort sogleich einen Vertrag

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Die Aerzteschaft hat an die Oeffentlichkeit bzw. an die politischen Parteien Sechs Fragen — bezeichnenderweise vor der Wahl — gestellt. Sie fragt auf dem als offizielle Stellungnahme der Oesterreichischen Aerztekammer bezeichneten Bogen unter anderem: ob man bereit sei, ehebaldigst ein eigenes Gesundheitsministerium oder wenigstens ein Staatssekretariat zu schaffen; ob die Parteien einen Arzt an aussichtsreicher Stelle kandidieren; es wird gefragt, unter welchen Umständen die betreffende Partei für eine Sanierung der Kassen eintritt. Die Aerzteschaft erkundigt sich, ob man für die Abschaffung der Befristung der Arbeitsverträge an- gestellter Aerzte in den Krankenanstalten eintritt und wie man sich zur 45-Stunden-Woche der angestellten Aerzte stellt. Schließlich fragen die Aerzte, ob die Parteien „eine dem Wesen der freien, akademischen Berufe entsprechende Besteuerung und eine steuerliche Anerkennung“ der Tatsache in Rechnung ziehen können, daß die Aerzte 80 Prozent der Bevölkerung zu sozialen Tarifen behandeln, „bzw. eine so lange Ausbildungszeit in ihren Beruf investieren, die später steuerlich nicht begünstigt wird". Man erkundigt sich schließlich, wie die Parteien die Frage der Umsatzbesteuerung von Entgelten für geistige Arbeiten sehen.

Man sieht, eine Reihe von Medizinen wird gesucht.

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