6572224-1950_25_13.jpg
Digital In Arbeit

Das „Instrument“ der Volksversicherung

Werbung
Werbung
Werbung

Seit fast eineinhalb Jahren steht das Gesetz über die Volksversicherung in der Tschechoslowakei in Kraft. Unmittelbar nach den Februarereignissen des Jahres 1948 war man an das Riesenwerk der Volksversicherung gegangen, das neben dem Verstaatlichungsgesetz auf wirtschaftspolitischem Gebiet und neben dem Einheitsschulgesetz auf kulturellem Gebiet eines der Fundamentalgesetze des neuen Regimes werden sollte. Daß man neben dem eigentlichen Sinn der Volksversicherung noch eine sehr wesentliche Nebenabsicht verband, zeigen die Worte von Minister Schlechta, die dieser beim Entstehen des Gesetzes sagte: Die Volksversicherung ist nicht nur ein Ausdruck der Solidarität der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft, sondern gleichzeitig ein wichtiges Instrument zur gerechten Distribution des Volkseinkommens.“

Die beiden Hauptgebiete der neuen Volksversicherung sind die Krankenversicherung (Krankheit und Mutterschaft) und die Rentenversicherung (bei Alter, Invalidität und Verlust des Ernährers). Eine Arbeitslosenversicherung sei unaktuell, „da es in sozialistischen Staaten eine Arbeitslosigkeit nicht gebe und auch nicht geben werde“. (Bei Ausweisung von rund einem Drittel der Gesamtbevölkerung allerdings verständlich.) Neben diesen Sozialrenten blieben aber vorerst noch die Fürsorge-r e n t e n bestehen, die in Hinkunft nicht mehr von der Gemeinde, sondern ebenfalls von der Zentralversicherungsanstalt ausgezahlt werden.

Auf die Mutterschaftshilfe ist besondere! Wert gelegt worden. Als Geburtsgeld werden für jedes Kind 2500 Tschechenkronen bezahlt, für die Säuglingsausstattung 750 Tschechenkronen. Daneben erhält jede versicherte Frau ein normales Krankengeld für 18 Wochen.

Neben den Vorteilen dieser zentralen Volksversicherung — auf 100 Tschechenkronen Beiträge sollen für Verwaltungsaufgaben nur 4.40 Tschechenkronen entfallen — hört man nicht wenig Beschwerden; am wenigsten allerdings von seiten der Patienten beziehungsweise der Versicherten — denn die getrauen sich nicht mehr, Kritik zu üben.

Ein wesentlicher Mangel ist die zu geringe Zahl der Ärzte. Erst ab 1953 soll eine kleine Entlastung eintreten, wenn die ersten, nach 1946 ausgebildeten Medizinstudenten die Hochschulen verlassen. Kritisch wird dieser Mangel aber vor allem durch die ungleichmäßige Verteilung der Ärzte. So arbeiten zum Beispiel 75 Prozent aller Kinderärzte allein in Prag. In Böhmen kommt erst auf 8700 Einwohner ein Zahnarzt. Noch ungünstiger ist die Situation in der Slowakei, wo mehr als die Hälfte der Ärzte keine Bindung zur Volksversicherung einging.

In zahlreichen vorsichtigen Zuschriften an Zeitungen beklagt man sich zum Beispiel über tagelanges Umherirren zwischen Büros, Ärzten und Geschäften wegen einer Brille, über komplizierte bürokratische Einweisungen zu Kuren usw.

Von außerordentlicher Schärfe ist allerdings die Stellungnahme der neuen Volksversicherung gegen ihre „Kunden“, die Versicherten, nicht minder aber auch gegen die ' Ärzte, Apotheker, ja sogar gegen die örtlichen Staats- und Parteidienststeilen, die einen Mißbrauch der neuen Volksversicherung nicht nur nicht verhüten, sondern ihn zum Teil auch noch unterstützen: Befürwortungen durch Ortsnationalausschüsse würden zu großzügig erteilt, ja es seien sogar Formulare für Rentenbezieher, die nie existierten, durch örtliche Stellen ausgefüllt worden.

Den Ärzten wirft man vor allem vor, zu bereitwillig auf angebliche Krankheiten einzugehen und so die ansteigenden Absenzen in den Betrieben zu fördern. „Es ist Schuld der Arzte selbst“ — schreibt in diesem Zusammenhang das Zentralorgan der KPC —, „daß die Bedeutung ärztlicher Bescheinigungen gering geworden ist und sich unter der Bevölkerung die Überzeugung verbreite, daß die Ärzte jedem das bescheinigen, was er will. Die Ärzte sollten darüber ernsthaft nachdenken...“ Auch die Ver-schreibung von Medikamenten werde viel zu großzügig vorgenommen, in Zukunft muß die geringstmögliche Anzahl von Tabletten verschrieben werden, damit wertvolles Volksgut nicht liegenbleibt und verdirbt. Scharf geht man gegen jene Apotheken vor, die andere Medikamente ausgeben, als vorgeschrieben werden; eine Reihe wurde sofort beschlagnahmt und der staatlichen Gesellschaft Medica eingegliedert.

Die Hauptschwierigkeiten bereiten der neuen Volksversicherung die 'Bauern. Die Krankenversicherung für die selbständig Berufstätigen — nach der radikalen Verstaatlichung bei Industrie, Gewerbe, Handel und Verkehr handelt es sich hier vorwiegend um Bauern —, die mit 1. Jänner 1950 eingeführt werden sollte, mußte auf Ersuchen einer Deputation der Kreisbeauftragten des Verbandes der Landwirte bei Sozialminister Evzen Erban bis auf weiteres hinausgeschoben werden. Begründet wird dies vor allem mit dem andauernden Mangel an Ärzten am flachen Land, mit der Notwendigkeit der Errichtung von Ambulatorien, so daß ein weiterer Zuwachs von 2.560.000 Versicherungspflichtigen derzeit nicht bewältigt werden könnte. Ein Herabsinken der Leistungen für die bisher Versicherten würde unweigerlich eintreten. Auch fügt man hinzu — und das scheint das Entscheidende zu sein —, daß die Bauern, die den Wert der bisherigen Versicherung noch nicht erkannt hätten, sich der großen Bedeutung der Neuerung noch nicht bewußt seien. Vor allem ist dies daraus zu ersehen, daß die Beiträge für die bisher schon laufende Rentenversicherung nur stockend, vielfach überhaupt nicht eingezahlt werden. Aufklärungsvorträge müssen nun in jeder Gemeinde durchgeführt werden und umfangreiche Broschüren erklären die Tätigkeit der neuen Volksversicherung. Wirft man also den Bauern vor, an der Einrichtung und dem Ausbau der neuen Zentralvolksversicherung desinteressiert zu sein, so liegen die Vorwürfe gegen dieArbeiter auf einer anderen Ebene. Sie wieder gehen in ihrer Begeisterung zu weit und nützen die neue Volksversicherung nach allen Regeln der Kunst aus, so daß sie die neue Einrichtung nicht nur in Schwierigkeiten bringen, sondern überhaupt die gesamte -Wirtschaft des volksdemokratischen Staates und seines Fünfjahresplanes schlechthin gefährden. Die Krankmeldungen und Absenzen der Arbeiter Sind in erschreckender Weise gestiegen, so daß laufend strenge Weisungen an die Ärzte ergehen. Ohne großes Aufsehen geht man über die Einwände und Beschwerden einiger „unbelehrbarer Einzelgänger“ hinweg, die zum Beispiel Anstoß an der Verwischung zwischen Arbeiter- und Angestelltenrente nehmen, „die große Mehrheit der Rentenempfänger hat dies trotzdem freudig begrüßt und Frantisek Vavricka, der Vorsitzende des Sozialpolitischen Ausschusses des Zentralgewerkschaftsrates, erklärte hiezu: „Unsere Versicherung wird jedem ' gehören, der gearbeitet hat, ohne Unterschied, ob er bisher versichert war und eingezahlt hat.“

Daß es bei all diesen organisatorischen Maßnahmen nicht nur um den kranken, arbeitsunfähigen und hilfsbedürftigen Menschen geht, sagt der stellvertretende tschechische Sozialminister Dr. Zdenek Popel mit großer Offenheit: „Auch die Versicherung muß ein wirksames Mittel zur Erhöhung der Produktion sein und jenen die beste Pflege gewähren, die am meisten und besten arbeiten.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung