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Es geht um das Vertrauen!

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Es ist kein gutes Zeichen, daß das Wirken des Arztes heute zu den meist- besprochenen Themen zählt, jenes Wirken und jene Würde, die bereits in den frühesten Zeiten etwas allgemein Anerkanntes war. Hat doch das Altertum dem Arzt seinen Platz in der Gesellschaftsordnung zunächst und neben dem Priester zugewiesen. Hier auf Hippo- krates zu verweisen, ist keineswegs müßig. Geht doch der Eid, der bestimmt ist, das Wirken des Arztes ethisch zu binden, und den jeder junge Arzt heute noch zu leisten hat, auf Hippokrates zurück. Noch mehr: dieser große Bahnbrecher der medizinischen Wissenschaft hat klar jene zwei Verbote aufgestellt, die gerade in unseren Tagen ethischer Dekadenz Gegenstand lebhaftester Auseinandersetzungen geworden sind: das Verbot der Euthanasie und das Verbot der Schwangerschaftsunterbrechung. Diesem sicheren Sinn für das ärztliche Ethos, den gerade die menschliche Frühzeit an den Tag gelegt hat, widerspricht es nicht, daß, der damaligen Sozialordnung entsprechend, die ärztliche Kunst häufig von Sklaven ausgeübt wurde. Jede Zeit hat ihre Formen der Freiheit wie der Unfreiheit. Auch wir müssen eine weitgehende Unfreiheit des Ärztestandes beklagen, auch heute hat der Arzt seine Brotherren, und diese strecken die Hand sogar nach jenen Bereichen, wo die wahre Würde des Wirkenden am empfindlichsten getroffen wird: nach den inneren Bezirken der ärztlichen Berufsausübung.

Noch andere bedeutsame Gefahren müssen ins Auge gefaßt werden. Greifbar feststellbare und nicht minder bedeutsame, die sich ungleich den eTsteren schwer erfassen und bekämpfen lassen.

Zu den ersteren zählt das rapide Ansteigen der Zahl der Ärzte, das oft beklagt und mit Bedauern festgestellt wird, während zu seiner Eindämmung noch nichts geschehen ist. Hieher gehört das Eindringen bestimmter Weltanschauungen in das allgemeine Bewußtsein und damit in die Ärzteschaft: Der Liberalismus mit seiner Idolisierung des Individuums, dem der Dienst an der Allgemeinheit fremd ist, der Materialismus, dessen Utilitäts- glaube die Heiligkeit des werdenden Lebens nicht anerkennt. Denn man kommt der Lösung der sozialen Frage nicht mit Schwangerschaftsverhütungen und -Unterbrechungen näher, wohl aber fördert man dadurch die Vergreisung.

Zu den schwer bekämpfbaren und für die Ausübung ernster medizinischer Kunst deshalb doppelt gefährlichen Zeiterscheinungen zählt die hemmungslose und sensationssüchtige Propagierung einer oberflächlichen Populärmedizin. Gewiß ist es notwendig, daß der einzelne sich der Wichtigkeit einer gewissen gesundheitlichen Selbstbeobachtung bewußt wird. Viele Übel, die später nicht mehr geheilt werden können, sind in einem Frühstadium mit Aussicht auf Erfolg bekämpfbar. Aber mit Schlagzeilen und dicken Balken wird solcher Rat und solche Aufklärung nicht vermittelt. Und noch weniger mit der täglichen Anpreisung angeblich neuentdeckter Wundermittel, die dieses oder jenes Erbübel des menschlichen Organismus von heute auf morgen fortzuzaubern imstande sein sollen. Diese Simplifizierungen, durch die sich der Laie gut unterrichtet, wähnt, verleiten ihn zu unerfüllbaren Erwartungen, und dem Arzt, der die angepriesenen, oft in Wahrheit unzulänglich erprobten Behandlungsmethoden ablehnt, haftet leicht das Odium an, ein Versäumnis begangen zu haben.

Ähnlich steht es mit dem Gebrauch von Statistiken, deren absolute Ziffern in eindrucksvoller Aufmachung verbreitet werden, ohne daß sich jemand die Mühe gibt, sie vorher auf ihre Vergleichbarkeit zu prüfen, von der doch der Gebrauchswert jeder statistischen Angabe abhängt. Es ist nachgewiesen, daß etwa die hohe Ziffer unserer Säuglingssterblichkeit, die in der Öffentlichkeit lebhafte Beunruhigung erregt hat, mindestens zum Teil aus Ursachen dieser Art erklärt werden muß. Wird doch in Österreich jede lebensunfähige Frühgeburt als „Lebendgeburt“ gerechnet, auch wenn sie nur wenige Atemzüge getan hat. Andere Länder scheiden selbstverständlich frühgeborene lebensunfähige Früchte aus der Statistik der Säuglingsmortalität aus. Staunend sieht dann der Laie die Erfolge der Vergleichsländer und schließt auf schwere Mißstände im Inland.

Nicht weniger bedauerlich ist es, den Arzt und seine Tätigkeit in den Lichtkegel der Jupiterlampen zu rücken. So verfließt in der Vorstellung mancher — auch im ärztlichen Milieu spielende Filme können dazu beitragen — der Arzt mit dem Star und der Star mit dem Arzt.

Damit kommen wir zu jenem Teil der öffentlichen Berichterstattung, der das ärztliche Wirken in besonderen Fällen zum Gegenstand hat. Wie jedes menschliche Tun ist auch das ärztliche mit Fehlem behaftet, und niemand beklagt Fälle von tatsächlichen Unzulänglichkeiten mehr als der ernste Arzt. Ärzte werden vor Gericht für Komplikationen und Ereignisse verantwortlich gemacht, welche schicksalsmäßig mit seiner Tätigkeit verbunden sind — für Mißgeschick bei Operationen, für Narkose- und Transfusionszwischenfälle. Solche tragische Komplikationen wurden früher in medizinischen Fachschriften mit Emst und Sachkenntnis erörtert. Wenn die führenden Ärzte der Welt zusammenkamen, besprachen sie ihre Erfolge und Mißerfolge, ihre Erkenntnisse und Irr- tümer. Heute steht auch dieses, höchste Sachkenntnis erfordernde Gebiet im Rampenlicht. Ein warnendes Beispiel ist die tragische Fortedolaffäre: Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen wurde das Präparat als Roh- und Halbfabrikat durch medizinische Laien nicht dem Apothekensektor, sondern unter unrichtiger Deklaration direkt der Fürsorge übergeben. Das Gesetz wurde von einer Amtsperson desjenigen Ministeriums verletzt. das zu seiner Überwachung berufen war. Es geschah dies freilich nur in der Absicht und in dem Drange, ohne Formalitäten rasch zu helfen, wie dies in der katastrophalen Zeit der Nadikriegs- jahre psychologisch nur zu verständlich ist, also zweifellos an sich aus edlen Motiven. Als nun der Arzt mit diesem ungesetzlichen Vorgang in keiner wie immer gearteten Weise in Zusammenhang zu bringen war, ging man daran, ihn als Zeugen zu vernehmen. Was hat sich da der ärztliche Zeuge in den Berichten einer bekannten Presse gefallen lassen müssen! Er wurde von ihr in jeder Weise herabgesetzt, ja es wurden Stimmen laut, welche die Ärzte auf der Anklagebank sehen wollten — man hat es bedauert, dafür keine gesetzlichen Handhaben zu besitzen.

Es wäre im Gegenteil Anlaß genug gewesen, den Ärzten zu danken, die das tragische Rätsel gelöst haben. Wie schwer die Lösung war, geht daraus hervor, daß eine Universitätsklinik in Wien trotz mehrwöchiger Beobachtung das unbekannte Krankheitsbild in zwei Fällen diagnostisch nicht zu definieren vermochte. Einem Gemeindearzt ist der exakte wissenschaftliche Nachweis der wahren Natur des als Lebertran falsch deklarierten Präparats zu danken; denn er hat die chemische Untersuchung des Präparats aus eigenem ärztlichem Antrieb veranlaßt. Erst dadurch konnte das Rätsel gelöst werden. Er hat als Arzt und Staatsbürger bei seiner Vorgesetzten Behörde die Anzeige erstattet und das Präparat sofort eigenhändig, ohne Zeit zu verlieren, sichergestellt. Wer aber hat diesem Arzt gedankt und seine Leistung anerkannt?

Durch die Obduktion im Krankenhaus Mistelbach wurde zum erstenmal in Österreich durch Veranlassung einer feingeweblichen Organuntersuchung einFortedolsdiaden erkannt und nachgewiesen. Weiß der Laie, daß bei Obduktionen die Untersuchung der inneren Organe durch zwei verschiedene Vorgänge, nämlich durch die Untersuchung mit dem freien Auge einerseits, andererseits durch feingewebliche (mikroskopische) Untersuchung Verfolgt? Während die Lungenentzündung mit freiem Auge erkennbar war, so ist die einzig mögliche Methode, eine Vitamin-D- Schädigung einwandfrei nachzuweisen, die mikroskopische Untersuchung mit ihren verschiedenen Färbemethoden. Die Todesursache: Lungenentzündung, stand sofort außer jedem Zweifel, die feingewebliche Untersuchung dauerte naturgemäß mehrere Tage und brachte dann restlos den wissenschaftlichen Nachweis der Tragödie. Wer würdigte die diagnostische Leistung der obduzierenden Ärzte und wer dankte ihnen dafür? Pressestimmen wurden dafür laut, diese Ärzte auf die Anklagebank zu verweisen! Hat man die Würde der ärztlichen Zeugen so geachtet, wie es österreichische Tradition ist? Der amtsärztliche Leiter der Obduktion, welche einen in Österreich bisher noch nie vorgekommenen Krankheitsfall erklärte, wurde in einzelnen Tagesblättern sogar verhöhnt, Dabei wurde von ihm sofort die Verfügung zur Einziehung des Präparats durch die zuständigen Stellen getroffen und unverzüglich die entsprechende Anzeige nachweislich schriftlich erbracht. Ist dies klipp und klar zum Ausdruck gekommen? Erfahrene Juristen und medizinische Wissenschafter machen sich über all dies ihre Gedanken.

Zutiefst erschüttert steht der Zeitgenosse vor diesem Ereignis, das die Ärzteschaft mit tiefer Sorge erfüllt. Nur; zu verständlich sind diese Symptome einer kulturellen Krisis, nach dem, was eingangs angedeutet werden konnte, Der wahre Arzt geht in stiller Pflichterfüllung den Weg eines neuen Martyriums, da man ihm wissentlich oder unwissentlich das zu rauben im Begriffe ist, was die Grundlage jeder menschlichen Beziehung ist: das Vertrauen und die gegenseitige Ehrfurcht. Die Sensation glaubt über ihn zu Gericht sitzen zu können — so erging es einst dem Sokrates. Die Sophisten sind vergessen, das Andenken des Weisen ist unentweiht geblieben…

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