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Neue Reichweite der Chemotherapie

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Professor Mario Volterra, ein gebürtiger Italiener, lebt heute in den USA und gilt als bedeutendster Fachgelehrter auf dem Gebiete der Lungenheilkunde.

Seit Jahrzehnten schon hat die ärztliche Heilkunde wirksame Methoden zur Behandlung der Tuberkulose entwickelt. Es genügt hier, an die Einführung des Pneumothorax bei Lungentuberkulose (1894) zu erinnern. Allseitig ist auch bekannt, welche hohe Wirksamkeit der Heilanstaltspflege bei der Behandlung Tuberkulosekranker zukommt, und wie wertvoll gewisse Medikamente wie Kalzium, Phosphor und Arsenik sindnamentlich wenn sie im Zusammenwirken mit Heilanstaltspflege verwendet werden. Dennoch ist seit der Entdeckung des spezifischen bakteriellen Ursprungs der Krankheit die Notwendigkeit einer therapeutischen Methode, die einen direkten Angriff auf den Tuberkelbazillus darstellt, unverkennbar.

. Die Hoffnung, eine chemotherapeutische Methode könnte der Heilung von Tuberkulose dienen, erfuhr neue Anregung, seit Paul Ehrlich die Möglichkeit nachwies, krankheitserregende Bazillen im Innern der Gewebe durch chemische Mittel 'zu treffen und damit die arsen-chemische Bekämpfung der Syphilis und anderer durch Protozoen hervorgerufener Krankheiten einzuleiten.

Einige theoretische Erwägungen jedoch zeigen die Schwierigkeiten auf, die der Erreichung dieses Zieles bei Tuberkulose entgegenstehen. Nur in sehr seltenen Fällen dringen die Blutgefäße in die Tuberkel ein, und dementsprechend ist auch nicht zu erwarten, daß ins Blut eingeführte Chemikalien leicht zu den örtlichen Anschwellungen gelangen, in denen die Bazillen ihren Sitz haben. Überdies hat der Tuberkelbazillus einen fettigen oder wachsartigen Uberzug, der die. Einwirkung chemotherapeutischer' Produkte auf das Bakterium selbst behindert.

Aber diese theoretischen Schwierigkeiten haben die Bestrebungen nach chemotherapeutischer Behandlung der Tuberkulose keineswegs vollkommen ausgeschaltet, und nachdem man das Verhalten gewisser Metalle im Laboratorium beobachtete, hat man klinische Versuche mit Derivaten von Gold; Kupfer und Nickel gemacht, wobei sich allerdings herausstellte, daß ihre Wirkung schwankt und nicht ausreicht, und daß außerdem ihre Anwendung nicht gefahrlos ist.

Gefährlich sind vor allem die bei der Verwendung von Goldpräparaten nicht seltenen Vergiftungserscheinungen. Sie können tatsächlich so gut wie alle Teile des menschlichen Organismus in Mitleidenschaft ziehen. Die Gefahren der Tuberkulosebehandlung mit Goldsalzen beschränken sich jedoch nicht auf diese Giftwirkungen allein. Die Goldtherapic kann auch, ganz wie die Tuberkulintherapie, die Krankheit gefährlich verschlimmern, wenn sie m einer noch aktiven Form der Tuberkulose angewendet wird oder Mengen verabreicht werden, die der Patient nicht verträgt. Es hat sich sogar erwiesen, daß die Goldsalze faktisch kein wirklich chemotherapeutisches Mittel zur Tuberkulosebehandlung darsteilen. Weitere Versuche mit Sulfapräparaten haben jedoch ergeben, daß man tatsächlich bakterielle Infektionen chemotherapeutisch bekämpfen kann.

Sulfa besitzt nun zwar eine hemmende Kraft bei experimenteller Tuberkulose, aber keines der Sulfapräparate hat sich bisher klinisch genügend gegen Tuberkulose bewährt, und erst die Arbeit der letzten fünf Jahre hat die Erkenntnis gebracht, daß ein wirklich wirksames Bekämpfungsmittel in chemischen Zusammensetzungen gefunden werden mag, die vom suphonat-aroma-tischen Produkt Diamino-Diphenil-Sulphon abgeleitet werden.

Das ursprüngliche Produkt ist zwar in Laboratoriumsversuchen sehr aktiv gegen den Kochschen Bazillus, löst sich aber schwer auf und hat sich als hochgiftig erwiesen. Man hat daher nach anderen Zusammensetzungen gesucht, die vom ursprünglichen Produkt abgeleitet werden oder mit ihm verwandt, dabei aber weniger giftig und gleichzeitig aktiver oder wenigstens ebenso aktiv sind. Von den zahlreichen verwendeten Produkten haben Diason, Promin und Promis! die besten Ergebnisse erzielt.

Klinische Versuche mit Diason sind 1943 von verschiedenen Forschern begonnen wor-i den. Es wird durch den Mund eingenommen, in Mengen von ein bis 1,3 Gramm täglich über lange Zeitabschnitte. Promin hat ähnliche Eigenschaften; es wird ebenfalls durch den Mund verabreicht, in Tages- , mengen von 1,2 bis 1,6 Gramm. Promisol ist offenbar -für das Blut weit weniger giftig und hat im tuberkulösen Prozeß die gleichen Wirkungen wie die beiden anderen.

Nodi ist es schwer, ein Urteil über die Wirksamkeit dieser chemotherapeutischen Mittel abzugeben, da klinische Versuche bisher nur an ein paar Dutzend Patienten durchgeführt wurden, so daß die statistischen Folgerungen, die man daraus ziehen kann, wissenschaftlich nicht einwandfrei sein können. Als Beispiel diene, daß von einer Gruppe von 36, während sechs bis sieben Monaten mit Promin behandelten Patienten, acht deutliche Besserung zeigten, sechs mäßige Besserungen, acht leichte Besserung und neun gar keine Besserung. Zwölf Monate nach Behandlungsbeginn zeigten von diesen 36 Patienten 13 einen vollständigen Stillstand der Krankheit, und acht von ihnen waren wieder zur Arbeit zurückgekehrt. Diese chepotherapeutischen Präparate haben sich bei Brustfellentzündung als besonders heilsam erwiesen, auch bei Bauchfelltuberkulose sind sie, nach der begrenzten Zahl der beobachteten Fälle zu urteilen, wirksam. Dagegen sind sie bei Gehirnhauttuberkulose ohne Ergebnis.

Der bisherige Eindruck ist, daß diese bei der Tuberkulosebehandlung verwendeten und erforschten chemotherapeutischen Mittel zu einem gewissen Hundertsatz günstig wirken, daß es jedoch unmöglich ist, solche günstige Wirkung im Einzelfall vorauszusagen. Bei Lungentuberkulose sollte ihre Arvwendung im Frühstadium erfolgen, ehe die Tendenz zur Bildung von Kavernen schärfer hervortritt. Aber die anderen Formen der Tuberkulosetherapie, sowohl die allgemeine Therapie wie die des Pneumothorax, dürfen nicht vernachlässigt werden und sind durch Chemotherapie nicht zu ersetzen.

Bisher ist die Verwendung dieser pharmazeutischen Präparate auf solche Anstalten beschränkt, die unter äußerst strenger Kontrolle die Wirksamkeit neuer Heilmittel systematisch erforschen. Solche Beschränkung ist erforderlich, so lange die therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten noch nicht mit größerer Genauigkeit sichergestellt sind und so lange man die Gefahren der Giftigkeit odef anderer Konsequenzen noch nicht vollständig übersieht.

Wenn also die Einbeziehung dieser ersten chemotherapeutischen Präparate in die Heilkunde das Problem der auf die Ursache gehenden Behandlung der Tuberkulose noch nicht lösen, so hinterläßt sie doch sicherlidi den Eindruck, daß wir uns auf dem rechten Wege befinden. Von der Zusammenarbeit von Chemikern. Pharmakologen und Kliniken dürfen wir vertrauensvoll erwarten, daß dem Arzt die Mittel zur chemotherapeutischen Behandlung der Tuberkulose in ihren verschiedenen Formen bald in die Hand gegeben werden können.

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