Der weiße Tod in Moldau

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Am meisten vermisse sie ihre Kinder, sagt die junge Frau, die in einem Krankenzimmer des Tuberkuloskrankenhauses in Vorniceni liegt. Sie werde schon seit über einem Jahr behandelt, multiresistente Tuberkulose. Ihre Kinder sehe sie nur selten. Da kein Behandlungserfolg zu verzeichnen ist, der garantiert, dass sie die multiresistenten Erreger nicht weitergibt, darf die alleinerziehende Mutter ihre Kinder nicht in den Arm nehmen. Außer dem Bett, auf dem sie liegt, befindet sich nur eine karge Einrichtung im Zimmer. Nebenan liegt ein Mann in einem ebenso karg eingerichteten Zimmer. Er sieht aus wie 60, ist aber laut Patientenakte etwas über 40. Lastwagenfahrer sei er gewesen, berichtet er, mit Fahrten in die Ukraine und nach Russland. Angesteckt habe er sich vermutlich in den Massenunterkünften für ausländische Arbeiter in Russland. Und er ist sich sicher, dass er die Tuberkulose schon an viele weitergegeben habe, denn der schlimme Husten habe ihn in den letzten Monaten vor der Krankenhauseinweisung nicht abgehalten, weiterhin seinem Beruf nachzugehen. Nun ist er arbeitslos, sein letztes Geld ist für die Behandlung draufgegangen und für einige Dinge, die extra im Krankenhaus bezahlt werden müssen.

Multiresistente Erreger

In einem anderen Flügel des renovierten Krankenhauses mitten auf dem Land zirka 40 Kilometer von der Hauptstadt Chisinau entfernt befindet sich die MDR-Station. Dort liegen die Fälle, die eine extrem multiresistente Tuberkulose haben, meist zu mehreren auf dem Zimmer. Wenn man vor Einweisung auf diese Station noch keine multiresistente Tuberkulose hatte, bekommt man sie hier von seinen Mitpatienten. Was macht man mit Patienten, die nicht mehr auf die Medikamente ansprechen? Einige, so berichtet der diensthabende Arzt, werden entlassen und kehren zum Sterben zu ihren Dörfern zurück. Wie viele sie dort noch mit Tuberkulose anstecken, sei unklar. Tuberkulosekrankenhäuser wie das in Vorniceni gibt es viele in Moldau. Meist handelt es sich dabei um Krankenhäuser aus der Zeit der Tuberkulosesanatorien aus dem 19. Jahrhundert oder aus den 1970er-Jahren. Renoviert und mit neuer Technik ausgestattet wie in Vorniceni sind die meisten nicht. Fragt man einen Bürger nach dem schwerwiegendsten Gesundheitsproblem seines Landes heute, so wird er mit ziemlicher Sicherheit die Tuberkulose nennen. Wie in den meisten anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auch hat sich die Tuberkulose nach 1991 massiv ausgebreitet, und mit ihr auch der Anteil multiresistenter Erreger. Diese sind viel schwerer zu behandeln als medikamentenempfindliche Stämme, und die Behandlung ist viel kostenintensiver. Moldau ist Beispiel für viele Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion: Es ist nach dem Kosovo das ärmste Land Europas. Als Binnenland zwischen Rumänien und der Ukraine mit 500 Metern Ufer an der Donau, ohne nennenswerte eigene Industrie, mit viel Landwirtschaft und großer Obst-, Walnuss- und v. a. Weinproduktion, ist das Land nicht nur arm, sondern hat mit der abtrünnigen Provinz Transnistrien auch innenpolitische Konflikte sowie Differenzen mit Russland auszuhalten. In Moldau gibt es das Sprichwort, Geld verdienen könne man nur auf drei verschiedene Weisen: von der eigenen Scholle leben, mit der (Russen-)Mafia zusammenarbeiten oder im Ausland arbeiten. Tatsächlich arbeiten sehr viele Moldawier im Ausland und schicken regelmäßig Geldbeträge an die zuhausegebliebenen Familien. Männer arbeiten häufig auf Baustellen in Russland, Weißrussland und in der Ukraine. Frauen gehen eher in romanischsprachige Länder der Europäischen Union, z. B. Portugal, Spanien, Italien, Frankreich und auch Deutschland, und arbeiten dort im Dienstleistungssektor, sehr oft im Pflegebereich. Das hat zur Folge, dass viele moldawische Kinder bei ihren Großeltern leben, wenn sie welche haben. Durch die Arbeitsmigration in osteuropäische Länder wird Tuberkulose häufig von dort eingeschleppt und in den Familien oder Dorfgemeinschaften weiterverbreitet. Und damit kommen auch multiresistente Tuberkuloseerreger nach Moldau, denn auch in den anderen osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern sind diese sehr verbreitet.

Unzureichende Diagnostik

Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden mit den neuen Staaten auch neue Grenzen. Und diese verhinderten die Verteilung von Tuberkulosemedikamenten, sodass an vielen Orten nicht alle notwendigen Medikamente vorlagen. Die Tuberkuloseärzte nahmen die vorhandenen und behandelten weiter. Da aber mit einer Dreier- oder besser Viererkombination behandelt werden muss, war diese Behandlung unzureichend, und Resistenzen gegen verschiedene Medikamente konnten entstehen. Durch unzureichende Diagnostik war in der Folgezeit oftmals unklar, gegen welche Medikamente bereits Resistenzen bestanden, sodass weitere herausgezüchtet wurden. Und so stieg der Anteil sogenannter multiresistenter Erreger immer weiter. Die betroffenen Patienten mussten mit den sehr viel schlechter wirksamen (und sehr viel teureren) Medikamenten der zweiten Linie behandelt werden, und auch gegen diese entwickelten sich sehr bald Resistenzen. Gegenmaßnahmen umfassen eine verlässliche Diagnostik sowie den Einsatz einer wirkungsvollen Kombinationstherapie, möglichst mit neuen Medikamenten.

Behandlung in Gefängnissen

Die Obristin hat ihren Bereich im Griff: die medizinische Betreuung der Gefängnisinsassen in Moldawien. Sie sagt, sie wolle nicht nur die Zahlen und Einrichtungen ansehen, ihr lägen vielmehr die Schicksale der Gefangenen am Herzen, und sie wolle vor allem die Tuberkulose in den von ihr betreuten Gefängnissen bekämpfen. In den meisten Fällen leiden Gefängnisinsassen an Tuberkulose. Das ist kein Wunder, denn in den Zellen sind meist mehrere Gefangene gleichzeitig eingesperrt, und wenn einer anfängt zu husten, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die anderen ebenfalls husten. Doch in Moldau ist - anders als in anderen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion - die medizinische Betreuung der Gefängnisinsassen vorbildlich. Es finden regelmäßige Untersuchungen statt, und die Zusammenarbeit mit dem zivilen Sektor in den Bereichen Diagnostik, Übergang und Weiterbetreuung von entlassenen Häftlingen, Versorgung mit Medikamenten funktioniert sehr gut. In vielen osteuropäischen Ländern ist das anders. Da werden tuberkulöse Häftlinge entlassen, und die Weiterbetreuung ist nicht gewährleistet, sodass sie die übertragenen Erreger nun in ihrer zivilen Umgebung verbreiten. In manchen Ländern ist die Situation in den Gefängnissen durch Überbelegung so schlimm, dass in einigen Zellen so viele Häftlinge zusammen eingesperrt sind, dass sich diese nicht gleichzeitig zum Schlafen auf den Fußboden legen können. Bei einer solchen Enge sind der Verbreitung des Tuberkuloseerregers Tor und Tür geöffnet.

Brutstätten der Tuberkulose

Die Tuberkulosesituation ist in vielen osteuropäischen und zentralasiatischen Ländern ähnlich: Armut fördert die Verbreitung, unzureichende Ausstattung in Diagnostik und Patientenversorgung fördert die Entstehung und Ausbreitung von multiresistenten Erregern. Diese wiederum verteuern und verkomplizieren die Tuberkulosekontrolle erheblich. Hinzu kommt noch eine Förderung der Verbreitung durch die Gefängnisse als Brutstätte (multiresistenter) Tuberkulose sowie durch Migrationsströme, entlang derer die Tuberkulose immer mitwandert. In einigen Ländern Osteuropas bereitet darüber hinaus noch eine stetig anwachsende Durchseuchung mit HIV/AIDS immer größere Sorge. Trifft die Immunschwächekrankheit auf die ohnehin kaum zu beherrschende Tuberkulosesituation, potenziert sich die Gefahr. Denn beide Infektionskrankheiten begünstigen einander: Tuberkulosepatienten erleiden viel schneller einen Ausbruch des AIDS-Vollbildes und HIV-Positive bekommen viel leichter eine aktive Tuberkuloseerkrankung als HIV-Negative. Davon ist Moldau zumindest zurzeit noch verschont. Und im Vergleich mit anderen Ländern Osteuropas verfügt Moldawien über eine sehr gut ausgebaute und qualitätskontrollierte Diagnostik sowie über ein engmaschiges Überwachungssystem. Die Diagnostik und epidemiologische Überwachung beziehen sich auch auf die abtrünnige Provinz Transnistrien, die ihre Tuberkuloseproben regelmäßig in das Zentrallabor in der Hauptstadt Chisinau schickt.

Die Behandlung multiresistenter und extrem multiresistenter Patienten ist effektiv, obwohl auch hier zuweilen keine verfügbaren Medikamente mehr wirken. Leider kommen durch Migration immer neue und immer kompliziertere Fälle ins Land, sodass zwar in den letzten Jahren eine Verbesserung der Situation zu beobachten war, jedoch nicht in dem Maße wie erhofft. Moldawien ist ein Musterland in der internationalen Kooperation zur Tuberkulosekontrolle in der WHO-Euro-Region. Die von WHO und internationalen Geldgebern geförderten Maßnahmen zeigen in dem kleinen Land sicht- und messbare Wirkung. Das Koch-Metschnikow-Forum ist als Nichtregierungsorganisation an dieser wissenschaftlichen und technisch-praktischen Zusammenarbeit aktiv beteiligt und betreut v. a. die wissenschaftlichen Kooperationsprojekte in der Verbesserung der Diagnostik und in der Epidemiologie der Tuberkulose in Moldawien sowie die medizinische universitäre Ausbildung.

Tuberkulose ist eine behandelbare Infektionskrankheit. Das heißt, jeder Patient hat theoretisch eine Chance auf Heilung. Bei multiresistenter Tuberkulose und vor allem wenn die Tuberkulose bereits ein zweites Mal bei einem Patienten aufgetreten ist, sinken die individuellen Chancen auf Genesung jedoch rapide. Das Elend sowie die fatalen Auswirkungen der Tuberkulose auf sämtliche Lebensbereiche der Betroffenen und ihrer Familien verschwinden oft hinter den epidemiologischen Zahlen und den länderbezogenen Untersuchungen. WHO sowie supra- und internationale Nichtregierungsorganisationen arbeiten an Strategien, Empfehlungen und Konzepten zur Eindämmung der Tuberkulose in der WHO-Euro-Region. Es ist traurig und beschämend zugleich, dass die WHO-Euro-Region die Millenniumentwicklungsziele bei der Bekämpfung der Tuberkulose (MDG #6) bis zum Jahr 2015 nicht erreichen wird - anders als die anderen fünf WHO-Weltregionen.

Doch was nützen etwaige Verbesserungen der epidemiologischen Zahlen in der WHO-Region oder gar in Moldau der jungen Mutter und dem Lastwagenfahrer auf den Krankenzimmern des Tuberkulosekrankenhauses in Vorniceni - oder den anderen Patienten, die auf den Fotos zu sehen sind? Die Prognose der jungen Mutter ist nicht schlecht, denn die Läsionen in ihrer Lunge bilden sich langsam zurück, d. h. die Medikamente der zweiten Linie beginnen bei ihrer multiresistenten Tuberkulose zu wirken. Sie wird bald den Erreger nicht mehr aushusten und ambulant weiterbehandelt werden können. Anders sieht es bei dem Lastwagenfahrer aus: Bei ihm wurde vor kurzem außer der multiresistenten Tuberkulose noch eine HIV-Infektion festgestellt. Ein geschwächtes Immunsystem bei gleichzeitiger Infektion mit einem schwer behandelbaren Tuberkuloseerreger verschlechtern seine Chancen rapide. Eine Verbesserung der epidemiologischen Situation nützt vor allem denjenigen, die noch keine Tuberkulose haben. Die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung sinkt mit sinkenden Fallzahlen. Dies kann durch eine konsequente Bekämpfungsstrategie erreicht werden, wie sie die WHO mit ihren Mitgliedsländern entwickelt hat. Moldau und die anderen Hochprävalenzländer Osteuropas dürfen mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen werden!

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