Joachim Bauer: "Menschen ohne Kontakt werden krank oder aggressiv"
Der „Shut-Down“ läuft psychischen Grundbedürfnissen zuwider und verursacht gigantische Wirtschaftsschäden. Für die nächste Pandemie sind bessere Strategien nötig. Eine Analyse.
Der „Shut-Down“ läuft psychischen Grundbedürfnissen zuwider und verursacht gigantische Wirtschaftsschäden. Für die nächste Pandemie sind bessere Strategien nötig. Eine Analyse.
An der vom Sars-CoV2-Virus ausgelösten Erkrankung Covid-19 gibt es nichts zu beschönigen. Zwar entwickeln, wie bisher vorliegende Studien zeigen, über 80 Prozent der Infizierten nur leichte bis mittelschwere Symptome (in der Regel mit Husten und Fieber), ähnlich einer Grippe. Da aber bei bis zu 20 Prozent der Infizierten das Virus zu einer schweren Lungenentzündung führt, handelt es sich um eine überaus ernst zu nehmende Erkrankung.
Knapp fünf Prozent der Infizierten brauchen intensivmedizinische Behandlung mit maschineller Beatmung. Die bisher gehandelten Prozentzahlen des Anteils schwer Erkrankter, ebenso wie die Angaben zum Anteil der an der Infektion Verstorbenen, sind tatsächlich vermutlich deutlich niedriger. Der Grund dafür ist, dass die bisher vorliegenden Studien sich nicht auf die Gesamtheit von Sars-CoV2-Infizierten in der Bevölkerung bezogen, sondern auf Menschen, die sich wegen teils geringer, teils stärkerer Beschwerden in einer Ambulanz vorgestellt hatten und dort positiv getestet worden waren.
Alle Experten gehen von einer nicht erfassten hohen Zahl unerkannt Infizierter in der Allgemeinbevölkerung aus, die nur geringe Symptome entwickeln. Aufgrund dieser „Dunkelziffer“ ist der tatsächliche Anteil derer, die schwer erkranken oder der Infektion erliegen, als weit geringer anzunehmen als bisher vermutet.
Weg zur Herdenimmunität
Virologisch und epidemiologisch unbestritten ist, dass wir fast alle der Infektion auf Dauer nicht entkommen können. Konsens der Fachleute ist, dass wir einer „Durchseuchung“ (etwas vornehmer ausgedrückt: Herdenimmunität) entgegengehen: An deren Ende werden bis zu 70 Prozent der Bevölkerung das Virus „durchgemacht“ und dann eine Immunität erworben haben. Diese 70 Prozent bieten dann ihrerseits den restlichen 30 Prozent der Bevölkerung, sozusagen als Puffer, einen gewissen Schutz.
Menschen sind auf sozialen Kontakt angewiesen: Zwischenmenschliche Nähe ist eine der stärksten heilsamen Drogen, die wir kennen.
Die bisherigen, der Reduktion von Kontakten zwischen den Menschen dienenden Maßnahmen haben – was gerne verdrängt wird – nicht das Ziel, Menschen vor der Infektion zu schützen. Sie sollen lediglich verhindern, dass sozusagen „alle auf einmal“ krank werden und unsere medizinischen Einrichtungen überfordern. Daher sind die Maßnahmen jetzt erst einmal richtig. Auf längere Sicht schützen sie aber niemanden, auch nicht die besonders Gefährdeten, vor einer Infektion!
Unsere westlichen Gesellschaften stehen vor einem Dilemma: Je konsequenter und länger wir die radikalen Maßnahmen der Kontaktsperre aufrechterhalten, desto weniger Menschen werden zu einem gegebenen Zeitpunkt krank, desto länger würde es aber auch dauern, bis die genannten etwa 70 Prozent der Bevölkerung, also rund 50 bis 60 Millionen Menschen, „durchinfiziert“ wären.
Virologen und Epidemiologen haben nur das eine Ziel vor Augen: Der Kurvenverlauf müsse abgeflacht werden, um unsere medizinischen Einrichtungen, die als nur wenig veränderbare Größe kalkuliert werden, nicht zu überlasten. Diese Argumentation ist zunächst einmal richtig. Dass an einer Lungenentzündung erkrankte Menschen, wenn sie stationäre Behandlung brauchen (nicht alle brauchen sie), eine Klinik finden, ist ein „Muss“. Menschen haben, damit ihre Gesundheit geschützt bleibt, aber nicht nur körperliche, sondern auch psychische, soziale und kulturelle Bedürfnisse, die ebenso zu beachten sind, in ihrer Bedeutung aber gerne unterschätzt oder gering gehandelt werden.
Politik hat das gesamte Spektrum dieser Bedürfnisse im Auge zu behalten. Menschen sind aufgrund ihrer neurobiologischen Konstruktionsmerkmale auf sozialen Kontakt angewiesene Wesen. Zwischenmenschliche Nähe ist, wenn sie einem Menschen nicht aufgezwungen wird, eine der stärksten heilsamen Drogen, die wir kennen. Das „soziale Gehirn“ Psychisches Erleben hat tiefgreifende, wissenschaftlich nachweisbare – und tatsächlich unendlich oft nachgewiesene – Auswirkungen auf die biologischen Abläufe des menschlichen Körpers.
Die analoge, physische Gemeinschaft mit anderen Menschen lässt sich durch digitale Kommunikationsmedien für viele Menschen gar nicht, für die anderen nur eingeschränkt und jedenfalls nicht auf Dauer ersetzen.
Das menschliche Gehirn – US-Kollegen prägten den Begriff des „Social Brain“ – konvertiert psychische und soziale Erfahrungen in Biologie. Mit am stärksten davon betroffen ist das menschliche Immunsystem, dessen biologische Abwehrkräfte erlahmen, wenn Menschen Einsamkeit oder soziale Ausgrenzung erleben. Dass die moderne Medizin, auf die wir uneingeschränkt stolz sein können und selbstverständlich nicht verzichten wollen, diesen Aspekt unterbewertet, ist bedauerlich, macht ihn aber nicht weniger bedeutsam.
Menschen in sozialer Isolation werden, wie dazu durchgeführte Studien zeigen, krank und depressiv oder aggressiv. Gemeinschaft, soziale und kulturelle Verbundenheit sind unersetzliche, essenzielle Lebensbedürfnisse. Die analoge, physische Gemeinschaft mit anderen Menschen lässt sich durch digitale Kommunikationsmedien für viele Menschen gar nicht, für die anderen nur eingeschränkt und jedenfalls nicht auf Dauer ersetzen. Vielen alten Menschen, vielen Blinden oder schwer Behinderten, aber auch vielen Kleinkindern stehen die digitalen Kommunikationsmittel gar nicht zur Verfügung.
Aber auch diejenigen, die in der digitalen Welt zu Hause sind, wissen, dass der physische Kontakt, der Blick in die Augen eines anderen, der Austausch eines Lächelns von Angesicht zu Angesicht letztlich nicht zu ersetzen ist. Gemeinsam Ausflüge zu machen, gemeinsam Konzerte zu besuchen oder sich anlasslos treffen zu können, sind menschliche Grundbedürfnisse. Weil sie genau das sind, haben wir die Grundrechte. Sie sind kein juristischer Selbstzweck. Sie sekundieren menschlichen Grundbedürfnissen.
Aus diesen Gründen muss Politik mehr sein als Virologie und Epidemiologie. Politik muss mehrere Zielgrößen im Auge haben: Die körperliche Gesundheit des Menschen ist eine, ja eine besonders wichtige Zielgröße – aber nicht die einzige. Ich sehe die Gefahr, dass wir als Gesellschaft dabei sind, unseren Blick unter der Drohung der uns bevorstehenden Epidemie auf die Virologie zu verengen. Die hier nicht weiter thematisierten wirtschaftlichen Schäden, die der „Shut-Down“ vieler gesellschaftlicher Bereiche anrichtet, sind derart gewaltig, dass jetzt mehrstellige Milliardenbeträge aufgebracht werden sollen, um die Folgen von Maßnahmen wiedergutzumachen, die eigentlich der Prävention von Unheil dienen sollten. Dies mag – trotzdem – in Ordnung sein.
Vorbereitung auf Notzeiten
Doch warum verwenden wir nicht einen guten Teil dieser „Bazooka“-Gelder dazu, unsere medizinischen Strukturen in kürzester Zeit baulich, apparativ und personell massiv aufzurüsten? Für eine solche notfallmäßige Hochgeschwindigkeits-Aufrüstung mit Schaffung von 10.000 zusätzlichen Betten (die wir dann nicht auf Dauer vorhalten, sondern für die Zeit einer Epidemie wie dieser in Reserve halten würden) wäre ein einmaliger Betrag in der Größenordnung von fünf bis zehn Milliarden Euro nötig.
Die aktuelle Covid-19-Pandemie ist nicht die erste, die unsere Länder heimsucht, und sie wird nicht die letzte gewesen sein. Von besonderen Epidemien einmal abgesehen: In Österreich erreicht die Influenza-bedingte Übersterblichkeit seit vielen Jahren bis zu etwa 6000 Menschen, in Deutschland liegt sie gesichert seit vielen Jahren alljährlich bei über 20.000 Menschen. Davor, dass – zusätzlich dazu – neue Erreger auftreten werden, wurde seit Jahren gewarnt. Erstaunlich erscheint daher jetzt im Nachhinein, warum anlässlich früherer Epidemien (Sars, Mers und andere), trotz entsprechender dringender Empfehlungen, nicht Masken und Schutzkleidung in hinreichender (millionenfacher) Menge gelagert wurden.
Neue unbekannte Erreger sind auch in Zukunft zu erwarten. Für unsere Länder sind nicht nur ausreichend Lagerbestände von Masken und Schutzkleidung, sondern auch eine Bettenreserve für Notzeiten einer Epidemie unverzichtbar. Diese Reserve kann in „Friedenszeiten“ ruhiggestellt werden. Dazu zählt auch ein Personalpool von Menschen, die in Friedenszeiten hinreichend trainiert wurden und in Notzeiten kurzfristig aktiviert werden können. Eine medizinische Reserve für die Bewältigung von Epidemien vorzuhalten, wäre, wie wir jetzt sehen, eine weit billigere Angelegenheit als das, was wir jetzt zur Stützung der Wirtschaft und zur Abwendung eines Totalkollapses unserer Gesellschaften ausgeben müssen.
Vor allem würden uns angemessene Vorsorgemaßnahmen ersparen, schwerwiegende, langanhaltende und unzumutbare Eingriffe in Grundrechte gegen den Verlust von Menschenleben abwägen zu müssen.
Joachim Bauer
Der Autor ist Professor für Psychoneuroimmunologie, Facharzt für Innere Medizin und für Psychiatrie in Berlin. Bauer forschte am „Mount Sinai Medical Center“ in New York City über Immunbotenstoffe und war lange am Uniklinikum Freiburg tätig. Von der Coronakrise persönlich betroffen ist er als gesetzlicher Betreuer seiner 89-jährigen Mutter, die erblindet in einem Pflegeheim lebt.