Menschen Maske - © Foto: iStock / Lyubov Ivanova

Der Mensch und Corona: Gesellige Ungeselligkeit

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Anschwellende Beengtheitsgefühle, soziale Einschüchterung und aggressives, kollektives Zusammenstehen: was uns Corona über die widersprüchliche Natur des Menschen lehrt. Ein Essay.

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Anschwellende Beengtheitsgefühle, soziale Einschüchterung und aggressives, kollektives Zusammenstehen: was uns Corona über die widersprüchliche Natur des Menschen lehrt. Ein Essay.

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Kürzlich lautete die Schlagzeile einer österreichischen Tageszeitung: „Ein Virus spaltet die Gesellschaft“. Demnach lehnen 45 Prozent der Bürger und Bürgerinnen das freiwillige Tragen einer Schutzmaske ab, und 47 Prozent sind gegen jede Form des sogenannten Contact-Tracing. Immerhin noch 30 Prozent der Befragten geben an, wegen der Corona­ Pandemie nicht besorgt zu sein. Angesichts der im Zeitraum der Befragung rapide gestiegenen Infektionszahlen hat diese Nicht­besorgtheitsbekundung etwas von Realitätsverweigerung. Man will sich in seinem gewohnten Alltag, seinen ansonsten üblichen Freiheiten auf keinen Fall einschränken lassen, warum auch?

Im Spiegel von Corona erkennen wir uns als die, die sich nicht einfach abwenden, umdrehen und weggehen können. Und unsere Reaktion auf Corona spiegelt die Situation jener, die einer Freiheit nachjagen, die nur in ihrem Kopf existiert. Das Leben in den dichten Zonen einer Großgesellschaft ist so oder so „viral“: Der Ansteckung durch die anderen können wir nicht entkommen, mögen ihre Corona­-Befunde auch alle negativ sein!

Strategien zur „Entdichtung“

Aber wir sind keine Laborratten, die einander weg­ und totbeißen, falls der Käfig zu eng wird. Wir haben eine Fülle von kulturellen Konventionen entwickelt, um unsere jeweilige Existenzzelle zu „entdichten“. Man denke an gedrängte Busfahrten, an das Wohnen und Arbeiten auf ein paar Quadratmetern bis zur Grenze des Nachbarn. Und nicht immer wollen wir raus aus dem Bad in der Menge. Es gibt die gesellige Masse, die uns eine ekstatische Freiheit beschert – die Freiheit von uns selbst durch das Verschmelzen mit dem Kollektiv. Immanuel Kant prägte in seiner Spätschrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ 1784 eine einprägsame Formel. Sie lautet: „ungesellige Geselligkeit“.

Kants Frage lautete, welche Staatsform am besten geeignet sei, dem „Widerspruch in der menschlichen Natur“, der Spannung zwischen Geselligkeit und egoistischer Selbstliebe, Rechnung zu tragen. Da es sich dabei um eine soziale Ordnung handeln muss, die so viel individuelle Freiheit gewährt, wie mit derselben Freiheit für alle anderen vereinbar ist, kommt für Kant nur die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft infrage. Deren ethisches Ideal wäre eine Weltgemeinschaft der Nationen – entgegen den nationalistischen Fixierungen seiner und unserer Epoche. Kants Idee mag im Rückblick naiv anmuten. Tatsache ist jedoch, dass sich ein großer Teil des europäischen Westens an Kants Vision orientierte. Freilich konnte Kant die Komplikationen, die heute unter den Stichworten „Globalisierung“ und „Digitalisierung“ verhandelt werden, nicht voraus­ sehen. Und selbstverständlich war es ihm unmöglich, die Effekte der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen in Zeiten einer Pandemie wie Corona abzuschätzen. Unsere Gesellschaften, die zugleich ein Patchwork von Kleinkulturen und Gruppen mit spezifischen, tradierten Lebensbedürfnissen sind, haben in ihrem Bestreben, sich nur ja keiner unzulässigen Freiheitsbeschränkungen schuldig zu machen, ein feinmaschiges System von Sensibilitäten errichtet.

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