Moby Dick - © Foto: Getty Images / Bettmann Bearbeitung: Rainer Messerklinger

Corona-Exit nach Kapitän Ahab

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Wer ein rasches Ende des Lockdowns fordert, muss sich letztlich fragen, wie viel Leben gemessen an Geld und Einkommen wert ist – und was danach kommt. Ein Essay gegen den Mainstream.

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Wer ein rasches Ende des Lockdowns fordert, muss sich letztlich fragen, wie viel Leben gemessen an Geld und Einkommen wert ist – und was danach kommt. Ein Essay gegen den Mainstream.

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Die menschliche Vorstellungswelt speist sich unentwegt aus Bildern. Wir denken etwa nicht abstrakt „Corona“, sondern sehen gleichsam beständig Corona-Allegorien: Särge auf Armeefahrzeugen, Intensivstationen, leere Autobahnen, leere Schulen. Oder uns selbst – in Selbsteinschließung. Zeit und Welt scheinen unwirklich leergeräumt, eine eigenartige Ruhe, wie bei Flaute auf hoher See, wie sie Herman Melville in „Moby-Dick“ beschreibt: „Eine stille, gedämpfte und doch irgendwie ahnungsvolle Stimmung lag über dem Deck, und jeder schien sich in sein unsichtbares Selbst zurückgezogen zu haben.“

In einer solchen Stimmung kommt man gern ins Grübeln, wie der Matrose Ismael an Bord der Pequod, der im Weben eines Netzes für ein Fangboot über das existenzielle Gewebe des Schicksals nachsinnt. „Fürwahr: Zufall, freier Wille und Notwendigkeit wirken und weben alle zusammen.“ Zufall und freier Wille prägen die Handlungen, die Notwendigkeit aber leitet das Leben und seine Wechselfälle in seinen großen Bahnen. Melville versetzt da gesellschaftsphilosophische Konzepte von Kant und Schelling mit leichter Dichterhand aufs Deck eines Schiffes im stillen Meer.

Nun fragt sich im Roman wie auch im Leben unter dem Corona-Kommando: Was erachten wir als „Notwendigkeit“, als „systemrelevant“? Oder: Was wollen wir, dass notwendig ist? Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit und Freiheit sind unsere eingeübten Notwendigkeiten, wichtige Pfeiler unseres gesellschaftspolitischen Systems. Sie gingen bisher immer nebeneinander einher, das eine bedingte, stützte und beförderte das andere.

Nun hat das Corona dramatisch geändert. Die Gesundheit ist viral entgleist und wendet sich gegen die Pfeiler des Wohlstands (durch Arbeit) und der Freiheit. Wir zwingen quasi per Shutdown Zufall und freien Willen in ein derart enges Gewebe, dass wir kaum noch fähig sind zu weben. Das ist die Gegenwart. So schützen wir das blanke Leben einiger in der Gesellschaft auf Kosten der Freiheit und des Wohlstands vieler anderer. Hier wird die Frage aller Fragen „Wozu ist das System da?“ ganz eindeutig beantwortet, entlang der demokratischen Verfassungen und Grundrechte: Das System ist für die Menschen da im Sinne des Schutzes der Schwachen. Wenn diese Schwachen gefährdet sind, durch zu viel Austausch von Gütern, Menschen, Kontakt – und damit Ansteckung –, wird das System heruntergefahren. Das Leben steht als Wert über der Wertschöpfung.

Starbucks Achtsamkeit

In „Moby-Dick“ würde dieses Prinzip der erste Steuermann Starbuck personifizieren, der den Walfang als ein Mittel sieht, sich selbst und der Zivilisation Wohlstand durch Tran zu bringen. Wenn er seine Mannschaft aber zu einem sinnlos gefährlichen Rachefeldzug seines Kapitäns Ahab missbraucht sieht, wendet er sich gegen diesen. Zu Beginn der Corona-Krise schien dieser „Starbuck-Realismus“ gesellschaftlicher Konsens zu sein, und die Male, in denen die Großeltern, Eltern und andere „Risikogruppen“ als Ziel allgemeiner Barmherzigkeit rhetorisch gestreichelt wurden, schienen ungezählt und endlos. Der sonst geübte Utilitarismus Jeremy Benthams, der allein das Wachstum ins Zentrum aller persönlichen und gesellschaftlichen Überlegungen stellt und allein in der Summe des Wachstums (auch wenn es nur wenigen dient) das Glück berechnen will, diese Denkart schien über Nacht ihren Rang zu verlieren.

Doch diese Niederlage währte nicht lange. Nicht nur werden die Erwähnungen der Schwachen durch Politiker seltener. Immer mehr rückte nun das Recht der Mehrheit auf Wohlstand in den Fokus. Wie retten wir die Wirtschaft, wann gibt es endlich wieder eine Öffnung? Und etwas zynischer in medialen Kommentaren: Sterben Menschen nicht ohnehin mit und an und auch ohne Corona? Die NZZ brachte das auf den Punkt, als sie den Preußenkönig Friedrich II. zitierte, der seinen zurückweichenden Soldaten zugerufen haben soll: „Wollt ihr denn ewig leben?“ Sie hätte auch Kapitän Ahab zitieren können (wäre der nicht so unbeliebt), der seinen Männern zuruft: „Euresgleichen schläft in Leichentüchern, auf dass ihr euch daran gewöhnen möget, an eurem Ende eins zu füllen.“

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