Tarnkappenviren überlisten das Immunsystem

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Es gibt nur wenige Viren, die die Abwehrkräfte des Körpers mehr alarmieren als das Influenzavirus, also der Erreger der Virusgrippe. Die Immunantwort ist prompt, stark und nachhaltig. Am stärksten wird das Immunsystem durch den Erstkontakt mit einem Influenzavirus geprägt - diese Begegnung merken sich die Abwehrzellen ein Leben lang.

Wieso kann es dann passieren, daß spätere Infektionen mit einem Influenzavirus schwere Krankheit, nicht selten sogar Lebensgefahr bedeuten? Die Antwort lautet: Das Virus tarnt sich. Und zwar zieht es sich ununterbrochen andere "Tarnkappen" über.

Die Immunzellen des Körpers erkennen Eindringlinge wie das Influenzavirus an deren Oberfläche. Wie ein Einbrecher seine Dietriche, so hat auch das Virus seine "Einbruchswerkzeuge" ständig parat: Es braucht manche dieser chemischen Werkzeuge beispielsweise, um besser in Körperzellen eindringen zu können, andere wieder dazu, um besser aus befallenen Zellen wieder herauszukommen.

Die Art und die Zusammensetzung dieser biochemischen Strukturen wandelt sich ständig. Irgend etwas in der Virusoberfläche ist immer im Umbau - das Virus wandelt ununterbrochen, wie in einem hektischen Maskenwechsel, sein Gesicht. Daher fällt es dem Körper und seinem Abwehrsystem so schwer, Virusinvasionen frühzeitig abzufangen.

Man nennt die oberflächlichen Virus-Bestandteile Antigene, weil sie "antigen" auf das Immunsystem wirken, das heißt, eine Immunantwort erzwingen.

Den ständigen Wandel der Viruseigenschaften bezeichnet die Immunologie als Antigen-Drift. Drift ist ein englisches Wort und bedeutet eine relativ langsame Bewegung. "Abdriften" sagt man auch im Deutschen, wenn man eine unmerkliche Standortverlagerung meint.

Alle paar Jahrzehnte aber kommt es bei den Influenzaviren - die in vieler Hinsicht, so auch in dieser, viele noch ungeklärte Rätsel aufgeben - zu einer "Antigen-Shift", geradezu zu einem flutartigen Wandel. Dann steht eine Epidemie vor der Tür, so wie man sie weltweit seit Jahren erwartet und fürchtet, und wie man glaubt, sie jetzt im Anfangsstadium in Hongkong zu beobachten.

Zwischenwirt Tier Dann verändert das Virus seine Eigenschaften plötzlich so dramatisch, daß das Abwehrsystem vieler Menschen völlig überfordert wird. Die Grippe-Epidemie fordert in einem solchen Fall meist Zehntausende Opfer, bevor die Epidemie abflaut, bevor offenbar die Immunsysteme der Menschen sich anpassen konnten, bevor auch Medizin und Pharmazie imstande waren, einen passenden Impfstoff zu erzeugen.

Besonders gefährdet sind in einem solchen Fall kranke und schwache Menschen. Bei ihnen können sich die Viren ausbreiten, große Teile der Schleimhäute infizieren, Lungenentzündung auslösen und relativ rasch zum Tod führen.

Das Influenzavirus, jahrzehntelang als "harmlos" eingeschätzt, hat sich über Nacht zu einem Killer entwickelt. Wieso sich die Viren derart verändern, weiß man nicht. Wahrscheinlich ist eine Vermischung verschiedener Virusstämme dafür verantwortlich. Dabei könnte es zum Austausch von Merkmalen kommen, und zum Mischen von (für den Menschen) gefährlichen neuen "Antigen-Cocktails".

Diese Durchmischung scheint in tierischen Organismen stattzufinden. Tiere wie vor allem Schweine und Wasservögel aller Art werden "beschuldigt", Zwischenwirte für Influenzaviren zu sein - sie sind anscheinend so etwas wie natürliche molekularbiologische "Labors", freilich ohne die strengen Sicherheitsauflagen, wie sie die Labors der Menschenwelt erfüllen müssen.

Die Tiere als Zwischenwirte erkranken selbst nicht an den Viren - sie beherbergen sie nur. Übertragen werden die Viren eine Zeitlang anscheinend nur vom Tier zum Tier - so wie das bei dem jüngst in Hongkong gefundenen "neuen" Virusstamm der Fall ist. Diese Viren sind - so die Meldungen der Weltpresse - nur von Geflügel zu Geflügel übertragbar.

Aber der Schritt zum Virus, das auch für den Menschen gefährlich werden kann, ist klein.

Erreger ausrotten Die Universitätsprofessorin Martha Eibl, Immunologin in Wien, sagt dazu: "Die Funde in Hongkong könnten auf das Frühstadium einer Epidemie hinweisen. Es ist möglich, daß sich die menschliche Infektiosität erst ausbildet."

Die Sofortreaktion der Chinesen, sämtliches Geflügel in Hongkong umzubringen, hat nicht nur den Ratten in der Hafenstadt ein Festessen beschert; sie hat diese auch möglicherweise zu Virusüberträgern gemacht.

Eibl: "Die einzige wirklich wirksame Bekämpfung der Virusgrippe ist die Impfung. Wenn man die tierischen Zwischenwirte reduziert, dann mag das zwar vielleicht die Zahl der Infektionen reduzieren, aber verhindern kann man sie nicht. Auch die Idee, bestimmte Viren überhaupt auszurotten, ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Viren einen Zwischenwirt haben. Ausrotten kann man nur Viren, die ausschließlich von Mensch zu Mensch übertragen werden. Was man aber jetzt sofort tun muß, das ist, von den bisher erkrankten Personen alle Virusstämme zu isolieren, sie zu charakterisieren, zu analysieren, und sich so ein volles Bild über die Infektion zu machen. Dann kann man einen neuen, optimal angepaßten Impfstoff erzeugen, der aber notgedrungenerweise um fast ein ganzes Jahr nachhinken wird - er kann erst für die nächste Saison wirksam werden."

Der Influenzaimpfstoff bietet nie vollständigen Schutz. Er wirkt bei rund 70 Prozent der Geimpften, meist indem er die Symptome abmildert. Die Infektion wirklich verhindern kann die Impfung nicht immer.

Es ist ja an sich ein Wunder, daß die Impfung überhaupt wirkt - verändert nicht das Virus ständig sein Gesicht? Ja. Aber nicht alle Virusstämme, die sich entwickeln, verändern sich in gleicher Weise. Meist bleiben von den drei Virusstämmen im Impfstoff zwei von einem Jahr auf das nächste einigermaßen gleich - nur einer verändert sich stärker - siehe "Antigen-Drift".

Schwärme in der Luft Vielleicht ist das Rätsel um die Verwandlung der Influenzaviren aber noch viel größer als man annimmt. Amerikanische Astrophysiker und Mathematiker vermuten, daß der wahre "Zwischenwirt" nicht Schweine, nicht Vögel und Ratten sind, sondern die Stratosphäre.

Laut diesen Wissenschaftern könnte ein ständiger "Pool" von Viren und Bakterien rund um die Erde schweben. Luftströmungen würden von Zeit zu Zeit, so die Theorie, die Erdoberfläche mit Schwärmen von Viren kontaminieren. Damit ließe sich erklären, wieso neue Influenza-Infektionen oft auf den Tag genau beginnen - bei Distanzen von Tausenden Kilometern.

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