Impftag 2020 - Anlässlich des Österreichischen Impftags am 18. Jänner 2020 steht die Impfpflicht bei einer Veranstaltung der Österreichischen Akademie der Ärzte in Wien im Fokus. Dort werden auch die ersten Pilotprojekte zum elektronischen Impfpass präsentiert, der bis spätestens 2021 in ganz Österreich eingeführt werden soll. - © Foto: iStock / Manit Chaidee

Impfen? Ja natürlich!

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Wie ist es möglich, dass in Österreich wieder ein markanter Anstieg der Masernfälle zu verzeichnen ist? Ein medizinisches Plädoyer für eine allgemeine Impfpflicht.

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Wie ist es möglich, dass in Österreich wieder ein markanter Anstieg der Masernfälle zu verzeichnen ist? Ein medizinisches Plädoyer für eine allgemeine Impfpflicht.

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Was haben wir als Experten an medizinischen Universitäten falsch gemacht, dass es im 21. Jahrhundert wieder zum Auftreten einer durch Impfung praktisch ausrottbaren Infektionskrankheit kommen konnte? Habe ich fälschlicherweise vorausgesetzt, dass auch den medizinisch nicht vorgebildeten Laien bewusst ist, dass Impfungen das eindrucksvollste Beispiel für die Anwendung eines immunologischen Prinzips zum Schutz vor Infektionskrankheiten sind? Deshalb sehen unsere Medizinstudenten heute während ihrer Ausbildung keine Fälle von Kinderlähmung oder Tetanus mehr – es sei denn, sie machen Erfahrungen in anderen Ländern, in denen Impfungen aus wirtschaftlichen oder ideo­logischen Gründen nicht flächendeckend durchgeführt werden. Weiß man hierzulande nicht, dass wir alle die seit Beginn des 20. Jahrhunderts von 49 auf jetzt über 80 Jahre gestiegene mittlere Lebenserwartung zu einem großen Teil dem Impfschutz verdanken?

Nutzen und Risiko

Vielleicht wurde die Schutzwirkung von Impfungen einfach nicht genügend erklärt, weil diese ja so offensichtlich ist? Wie könnte dies trotz der mangelnden Schulbildung in naturwissenschaftlichen Fächern gelingen? Vielleicht durch geeignete Vergleiche mit anderen Lebensbereichen – zum Beispiel einer Versicherung. Wer mit seinem Auto in Österreich in einen Verkehrsunfall verwickelt ist, kann sich darauf verlassen, dass sowohl er als auch sein Kontrahent haftpflichtversichert sind, und beide nehmen die dafür nötige gesetzliche Verpflichtung ohne großes Murren in Kauf. So sind alle in der „Herde der Versicherungsteilnehmer“ abgesichert. Manche schließen sogar zusätzlich noch eine individuelle Kaskoversicherung ab, die auch für selbst verschuldete Schäden am eigenen Leib oder Fahrzeug aufkommt. Warum verstehen die Österreicher den Vorteil der „Herdenversicherung“ als Autofahrer, aber nicht das Prinzip der „Herdenimmunität“ und der individuellen Immunität beim Impfen?

Österreicher schenken dem eigenen Körper und der Gesundheit ihrer Kinder offensichtlich viel weniger Aufmerksamkeit als ihrem fahrenden Untersatz. In der Straßenbahn kann man sich nämlich nicht darauf verlassen, dass der hustende Nachbar nur eine Bronchitis und keine Grippe oder einen Keuchhusten hat. Das Gegenüber ist eventuell nicht gegen diese Infektionskrankheiten geimpft und daher ein potentieller Überträger. Im Prinzip könnte man – ähnlich wie beim Rauchen – der Argumentation folgen, dass jeder Mensch für seine Gesundheit verantwortlich ist und daher auch das Risiko eingehen kann, als ungeimpfter Staatsbürger eine Infektionskrankheit einzufangen – solange diese Entscheidung zur individuellen Immunität nicht auf andere ausgedehnt wird.

Doch das Fehlen einer individuellen Immunität hat Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Ähnlich wie bei einer Versicherung, für die alle einzahlen, damit genug Kapital zum eventuell notwendigen Schutz aller Versicherten vorhanden ist, muss auch die Durchimpfungsrate in der Gesamtbevölkerung – und damit die Herdenimmunität – genügend ausgeprägt sein, damit ein allgemeiner Schutz vor den betreffenden Infektionskrankheiten gewährleistet ist. Statistisch ist eine solche Herdenimmunität bei einer 95-prozentigen Durchimpfrate gegeben. Viele Österreicher scheint es nicht zu beeindrucken, dass im Winter 2018 nicht weniger als 440.000 Menschen an Grippe erkrankt waren, von denen über 1300 – vor allem Ältere – gestorben sind. An der durch Zecken übertragenen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) sind 2018 österreichweit 154 Menschen erkrankt und fünf daran verstorben, was durch korrekte Impfung vermeidbar gewesen wäre.

Das Wiederaufflammen der Masern in Österreich war also ein Lehrbeispiel für gesundheitspolitisches Versagen, die Verbreitung von immunologischen „Fake News“ und intellektueller Unbedarftheit. Die Masern zählen zwar zu den sogenannten Kinderkrankheiten – aber eben nur, weil sie vor der Verfügbarkeit eines Impfstoffs erstmals im Kindesalter auftraten. Die Masern sind eine durch Viren bedingte gefährliche, durch Tröpfchen in der Atemluft und in Aerosolen übertragbare, hoch infektiöse Erkrankung, die nicht selten zu schweren Komplikationen wie Lungen-, Augen-, Hirnhaut-, Hirnentzündung und sogar zum Tod führen kann. Durch die Masernimpfung wurden weltweit seit dem Jahr 2000 ca. 21 Millionen Todesfälle verhindert!

Fahrlässige Gefährdung

Ein Anstieg der Masernfälle wurde 2018 von 98 Staaten gemeldet. In Österreich wurden 77 Fälle registriert, die durch Impfungen vermeidbar gewesen wären; zwölf Prozent von diesen betrafen übrigens das Gesundheitspersonal! In den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 wurden bereits wieder 144 Fälle von Masern registriert.

Die Meinung von selbst ernannten „Impf­experten“, dass eine „natürliche“ Maserninfektion das Immunsystem stärke, zeugt von eklatanter Unwissenheit. Das Gegenteil ist der Fall: Nach einer Masernerkrankung ist die Reaktionsfähigkeit des Immunsystems lange Zeit vermindert, da verschiedene Gruppen von Immunzellen vom Masernvirus befallen werden und ihre Aufgaben in der Abwehr nicht mehr optimal erfüllen können. Zu den „Fake News“ zählt übrigens auch die Behauptung, Impfstoffhersteller würden mit ihren Produkten lukrative Geschäfte machen. Auch hier gilt: Die Behandlung von erkrankten Patienten mit teuren Medikamenten bringt leider weitaus mehr Gewinn als die Prävention durch Impfungen.

Warum verstehen die Österreicher den Vorteil der ‚Herdenversicherung‘ als Autofahrer, aber nicht das Prinzip der ‚Herdenimmunität‘ beim Impfen?

Sind die Österreicher weniger intelligent als die Italiener, Amerikaner oder Schweizer? Sicher nicht, aber – wie aus den PISA-Studien ersichtlich – naturwissenschaftlich weniger gebildet. Statistiken zeigen den Schaden, der durch Nicht-Impfen entsteht. Eindrucksvolles Beispiel: Die Masernendemie bei ungeimpften Kindern in einer anthroposophischen Schule in Salzburg im Jahr 2008. Unser Problem sind hier also nicht so sehr die Flüchtlinge, sondern eher die Waldorf- und Montessori-Schulen. Dass es in Österreich gesetzlich überhaupt möglich ist, dass Krankenhauspersonal oder Lehrer ihren Beruf ohne kompletten Impfschutz ausüben können und Kinder ungeimpft und mit aktiver Infektionskrankheit (z. B. Masern) in den Kindergarten oder die Schule geschickt werden – übrigens ein gerichtlich ahndbares Delikt der fahrlässigen Gefährdung – bereitete der Gesundheitspolitik lange Zeit kein Kopfzerbrechen. In vielen unserer Nachbarländer oder in den USA besteht Impfpflicht. So können etwa in Kalifornien ­Beamte nur eingestellt werden, wenn sie alle geforderten Impfungen nachweisen können. Das Gleiche gilt für die Aufnahme von Kindern in Kindergärten und Schulen.

Mit einem geringen Grad an naturwissenschaftlicher Bildung ist leicht eruierbar, dass die Schutzwirkung von Impfungen um das Hunderttausendfache größer ist als die wenigen, schweren Nebenwirkungen. Fieber oder Schmerzen an der Einstichstelle sind übrigens ein positives Zeichen für eine gute Reaktion des Immunsystems auf Kontakt mit dem Impfstoff – insbesondere bei Auffrischungsimpfungen, wo ja bereits eine Grundimmunität besteht. Das Immunsystem hat nämlich die Fähigkeit zur Erinnerung: Wenn es mit einem Impfstoff zum ersten Mal konfrontiert wird, bilden sich sogenannte Erinnerungsimmunzellen („Memory-Lymphozyten“), die im Blut und in den Organen des Immunsystems, wie Knochenmark, Milz und Lymphknoten, bereitstehen, um viel früher und stärker als bei der Erstimmunisierung zu reagieren und dann einen langfristigen Schutz zu gewährleisten.

Ein weiteres Merkmal der Immunreaktion ist ihre Spezifität: Eine Impfung gegen Diphterie schützt nur gegen Diphterie, bewirkt aber keine Entwicklung von Memory-Zellen gegen andere Infektionserreger, wie zum Beispiel Tetanusbakterien. Dagegen muss man sich also zusätzlich impfen lassen. Hier kommt noch ein von manchen Skeptikern apostrophierter Aspekt ins Spiel: die angebliche „Überlastung“ des Immunsystems – insbesondere bei Kindern – durch mehrfache Impfungen. Das menschliche Immunsystem hat Milliarden von spezifischen, „schlafenden“ Lymphozyten im Köcher, die gleichsam darauf warten, zur Abwehr eines Eindringlings „aufgeweckt“ zu werden, sich zu vermehren und den Feind abzutöten. Unser Immunsys­tem ist nämlich so konstruiert, dass es auf alle Eventualitäten vorbereitet ist, auch auf die Konfrontation mit Fremdmaterial, das heute noch gar nicht existiert!

Gelegentlich erkranken Menschen an Infektionskrankheiten, obwohl sie geimpft worden sind. Solche Fälle können sowohl technische als auch immunbiologische Ursachen haben. Wie bei allen medizinischen Handlungen zur Prophylaxe oder Therapie von Erkrankungen gibt es auch bei Impfungen gelegentlich Probleme, da nicht alle einen gleich stark ausgeprägten Schutz vor der jeweiligen Infektionskrankheit bewirken. Die Konzentration von protektiven Antikörpern gegen Grippeviren etwa fällt im Blutserum sogar schon 100 bis 150 Tage nach der Impfung unter den schützenden Wert ab. Es ist also wichtig, sich rechtzeitig vor der jährlichen Grippeepidemie impfen zu lassen. Aber auch dann besteht keine Garantie, dass man nicht erkrankt. Daraus geht hervor, dass es angesichts des Risikos, an einer schweren, manchmal sogar tödlichen Grippe zu erkranken, wert ist, einen eventuell nicht erreichten Impfschutz in Kauf zu nehmen. Das Grippevirus mutiert nämlich oft rascher, als die Impfstoff-Hersteller mit der Produktion nachkommen.

Versäumnis von Auffrischungen

Beim Masernimpfstoff handelt es sich um einen der Lebendimpfstoffe. Diese sind besonders wirksam, weil sich die für gesunde Babys, Kinder und Erwachsene ungefährlichen, abgeschwächten Viren im Organismus vermehren und so eine starke und lange andauernde, schützende Immunreaktion bewirken. Bei Menschen mit unterdrücktem Immunsystem können Lebend­impfstoffe allerdings schwere Formen der entsprechenden Krankheit entwickeln. Dazu zählen etwa Empfänger von Organtransplantaten, Patienten mit AIDS sowie jene mit schweren Formen entzündlicher Erkrankungen, zum Beispiel rheumatoider Arthritis, deren Immunsystem aufgrund einer medikamentösen Behandlung unterdrückt ist. Diese besonders gefährdeten, weil nicht geimpften Gruppen von Patienten müssen sich also ganz auf die Herden­immunität in der Bevölkerung verlassen.

Am häufigsten handelt es sich bei mangelndem Impfschutz allerdings um das Versäumnis von Auffrischungsimpfungen. Bei alten Menschen reagiert das Immunsystem mangelhaft gegen alle von außen kommenden Reize, d. h. auch alle Arten von Impfungen. Hier müssen eigene Impfstrategien zur Anwendung kommen. In ganz seltenen Fällen funktioniert das Immunsys­tem zwar gut, kann aber gerade gegen eine einzige Art von Fremdmaterial (z. B. den Masernimpfstoff) nicht reagieren; ihr immunologisches Abwehrrepertoire hat also gleichsam „ein Loch“. Schließlich gibt es noch Impfversagen aus meist nicht eindeutig eruierbarer Ursache, z. B. weil die Kühlkette beim Transport oder der Lagerung der Impfstoffe unterbrochen wurde.

In sehr seltenen Fällen gibt es auch schwere, unerwartete Folgen von Impfungen. Meist handelt es sich dabei um das Auftreten von schon vor der Impfung vorhandenen „schlummernden“ Erkrankungen (v. a. Autoimmunkrankheiten), die erst durch die Stimulierung des Immunsys­tems auftreten. Einen völlig risikofreien Zustand gibt es also auch im Zusammenhang mit Impfungen nicht – wie auch in allen anderen Lebensbereichen. Wir fahren ja auch mit dem Auto, obwohl wir über die zahlreichen Unfälle mit Verletzungen und Todesfolge Bescheid wissen. Bei Verehrsunfällen starben 2019 in Österreich 410 Menschen (!), ganz zu schweigen von der noch um ein Vielfaches höheren Zahl an Verletzten mit bleibenden Schäden.
Vielleicht führen die geplanten Reformen des Schulwesens mit stärkerer Konzentration auf naturwissenschaftliche und technische Fächer zu einem besseren Verständnis biologisch-medizinischer Themen – und so auch der segensreichen Wirkung von Impfungen.

Der Autor ist em. o. Prof. für Pathophysiologie und Immunologie an der Universität Innsbruck und war Gründungsdirektor des ÖAW-Instituts für Biomedizinische Alternsforschung sowie ehem. Präsident des FWF.

Was spricht GEGEN eine allgemeine Impfpflicht? Lesen Sie hier den Gastkommentar von Madeleine Petrovic.

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