Studien statt Experimente

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Kranke Kinder erhalten oft ungeprüfte Medikamente. Eine altersgerechte Therapie gemäß heutigen Qualitäts- und Sicherheitsstandards gilt nun als große Herausforderung.

In der Europäischen Union ist circa die Hälfte der Arzneimittel, mit denen heute insgesamt 100 Millionen Kinder und Jugendliche behandelt werden, nicht für diese Altersgruppen getestet. Der ungeprüfte Einsatz von Medikamenten stellt ein beträchtliches Problem dar und verdeutlicht das unzureichende Wissen zur Arzneimitteltherapie bei Kindern, konstatierte kürzlich ein Bericht bei einem pädiatrischen Kongress in Salzburg. Und dies obwohl die Pharma- und Biotech-Industrie in der EU führend hinsichtlich Forschung und Entwicklung ist: Mit einer Forschungsquote von 15,1 Prozent an Investitionen gemessen am Umsatz liegt die Pharma- und Biotech-Branche deutlich vor anderen Sektoren wie Software, Hardware, Elektronik etc. und weit über dem EU-Branchenschnitt von 3,2 Prozent. In einer mit Medikamenten und anderen hoch technologischen Gütern bestens versorgten Gesellschaft sind ausgerechnet kranke Kinder zu "pharmazeutischen Waisen“ (Ärzte-Woche) geworden - wie konnte das passieren?

"Das Vorurteil, dass man Kinder durch die Teilnahme an klinischen Studien gewissermaßen zum ‚Versuchskaninchen‘ macht, hat letztlich dazu geführt, dass die Therapie von erkrankten Kindern in der täglichen Praxis oft zum Experiment wird“, erläutert der Pharmakologe Markus Müller, Vizerektor für Forschung der Medizinischen Universität Wien. Denn wenn Kinder eine medikamentöse Behandlung erhalten, erfolgt dies mehrheitlich ohne wissenschaftliche Grundlage, zumindest gemäß heutigen Kriterien: Ein Großteil der Medikamente, die bei kranken Kindern zum Einsatz kommen, sind "off-licence“, das heißt ohne Zulassung für die entsprechende Altersgruppe, oder überhaupt "off-label“, somit außerhalb der zugelassenen Indikation für die Verabreichung des Arzneimittels. Derzeit betrifft dies circa ein Drittel der Kinder, die im niedergelassenen Bereich behandelt werden, zwei Drittel der stationär aufgenommenen Kinder, 80 Prozent der krebskranken Kinder und bis zu 90 Prozent der kritisch kranken Kinder auf der Intensivstation.

Risikoreichere Therapie

Während Impfstoffe, Antibiotika oder Hustenmittel bei Kindern meist gut untersucht sind, sind geprüfte Medikamente gegen schwere Erkrankungen wie Krebs, Epilepsie, Rheuma oder Herzkrankheiten Mangelware. Dies gilt auch für Psychopharmaka, deren Verschreibung im Kindes- und Jugendalter bei manchen psychischen Störungen teils zu kontroversen Debatten führt, wie jüngst sogar ein vom Päpstlichen Gesundheitsrat organisierter vatikanischer Kongress zum Thema "Das Kind als Mensch und als Patient“ verdeutlichte.

"Insbesondere auch bei Psychopharmaka, die oft ohne eine adäquate Studiengrundlage eingesetzt werden oder die Zulassung aufgrund der Rücknahme durch die Herstellerfirma verloren haben, sind klinische Studien dringend erforderlich“, betont Reinhold Kerbl, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde.

Generell gilt: Je jünger die Patienten und je schwerer erkrankt, desto kleiner ist das Angebot ordnungsgemäß zugelassener Medikamente. Die Folgen: Aufgrund fehlender Testdaten vom Hersteller müssen die Ärzte die richtige Anwendung selbst ermitteln. Dies impliziert ein Risiko für Über- oder Unterdosierung, unzureichende Wirksamkeit oder schlechtere Verträglichkeit. "Nebenwirkungen können beim ‚off-label‘-Einsatz von Medikamenten circa doppelt so häufig auftreten wie bei zugelassenen Präparaten“, so Kerbl. Auch Nebenwirkungen, die bei Erwachsenen noch nie zu beobachten waren, sowie bei falschem Einsatz sogar Spätschäden sind nicht auszuschließen. Zudem gibt es beim "experimentellen“ Einsatz von Medikamenten abseits der Zulassung keine Industriehaftung; die behandelnden Ärzte haben auch insofern große Verantwortung zu tragen.

Erbe der NS-Menschenversuche

Vor der Markteinführung müssen Medikamente ein umfassendes Studienprogramm durchlaufen, das harte Evidenz bezüglich Wirkung, Sicherheit und Verträglichkeit der Arzneimittel zur Verfügung stellt. Bei Kindern sind klinische Arzneimittelprüfungen wegen geringer Fallzahlen und strengerer Auflagen jedoch aufwändig und kostenintensiv, und somit in einem kleinen Land wie Österreich für die pharmazeutische Industrie wirtschaftlich nicht attraktiv. Hinzu kamen Bedenken der Pharmafirmen, dass vereinzelt negative Ergebnisse bei Kindern das "Image“ von gut etablierten Medikamenten am Erwachsenenmarkt beschädigen könnten.

Aus einer historischen Perspektive wurden Kinderstudien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt angesichts des Erbes der grausamen und verbrecherischen NS-Menschenversuche als generell unethisch eingestuft, zumal Kinder als besonders schützenswerte Personen gelten. Erst 2004 wurde die Notwendigkeit von Studien an Kindern im österreichischen Arzneimittelgesetz anerkannt und unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen erlaubt. Und nachdem in den USA bereits 1997 Studiendaten bei Kindern per Gesetz eingefordert wurden, machte sich die EU etwa ein Jahrzehnt später zum Anwalt der kranken Kinder. Spätestens seit Inkrafttreten der "Paediatric Regulation“ im Jahr 2008 besteht in Europa die Verpflichtung zur Durchführung von Kinderstudien. Das Ziel dabei ist, in den nächsten Jahren in jedem EU-Mitgliedsstaat nationale und länderübergreifende Forschungsnetzwerke zu etablieren.

Österreichische Initiative

Mit dem Kinderforschungsnetzwerk OKIDS, das seit Mitte Mai seine operative Tätigkeit aufgenommen hat, zählt Österreich zum ersten Drittel jener Staaten, die nun eine entsprechende Umsetzung der EU-Vorgaben initiiert haben. Als Ausgangsbasis wurden Studien mit Einschluss von Kindern und Jugendlichen über fünf Jahre ausgewertet, um wichtige Vergleichswerte für die künftige Entwicklung bereitzustellen.

"In den letzten fünf Jahren gab es in Österreich nur 134 Studien, die auch Patienten unter 18 Jahren eingeschlossen haben“, berichtet Ruth Ladenstein, Kinderkrebsspezialistin am St. Anna Kinderspital in Wien und OKIDS-Geschäftsführerin. "Nun soll der Anteil der Studien mit Kindern und Jugendlichen in Österreich pro Jahr um mindestens 15 Prozent gesteigert werden.“ Zudem soll OKIDS dazu beitragen, neue Therapieleitlinien für pädiatrische Patienten zu etablieren. Quer durch die Kinderheilkunde soll somit der "off-label“-Gebrauch von Arzneimitteln deutlich gesenkt werden, so Ladenstein: "Das System reagiert verzögert; das heißt, wir müssen heute die Weichen stellen, damit wir in zehn bis fünfzehn Jahren eine verbesserte Situation in der ärztlichen Praxis vorfinden.“

Die Anschubfinanzierung von OKIDS über insgesamt 1,5 Millionen Euro erfolgt zu gleichen Teilen durch das Gesundheitsministerium und die Pharmig, dem Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs, wobei in den nächsten fünf Jahren jeweils 150.000 Euro zur Verfügung gestellt werden. Ab 2018 soll die finanzielle Selbsterhaltungsfähigkeit durch den Studienbetrieb erreicht sein.

OKIDS repräsentiert die bislang jüngste Initiative einer Reihe medizinischer Forschungsnetzwerke und Kompetenzzentren in Österreich, die im Bereich der Onkologie bereits gut etabliert sind und gern als Indikator für die Qualität des Standorts herangezogen werden. "Solche Netzwerke sind für Österreich besonders wichtig, da für ein kleines Land die administrativen Kosten vergleichbar sind wie für ein großes Land, aber der Patientenpool deutlich kleiner ist“, erörtert Stefan Kähler, Vorsitzender des Pharmig-Arbeitskreises zur klinischen Forschung. "Um ausreichend Patientenzahlen zu erreichen, muss sich Österreich in diesem Bereich besonders gut positionieren.“

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