6693584-1962_48_09.jpg
Digital In Arbeit

Der Arzt und die Drogen

Werbung
Werbung
Werbung

Aktuelle Ereignisse können unter Umständen den Arzt, besonders den Neurologen und forensischen Psychiater, zur öffentlichen Stellungnahme zwingen. Ein solches Ereignis ist der belgische „Contergan-Pro-zeß“ gegen fünf Personen, darunter einen Arzt, wegen Tötung beziehungsweise Beihilfe zur Tötung eines Neugeborenen, das durch Contergan-Ge-nuß der Mutter verstümmelt zur Welt kam. Der Prozeß endete bekanntlich mit einem Freispruch. Es sei betont, daß der Verfasser über den Hergang des Prozesses nur aus der Tagespresse informiert ist und daher zwangsläufig wichtige Details der Vorgeschichte und des Prozeßverlaufes nicht kennen kann. Dies scheint aber für eine prinzipielle Stellungnahme nicht von ausschlaggebender Bedeutung, da die Thaliomidschäden, der Ausgang des Prozesses und die Einstellung eines Teiles der Bevölkerung Belgiens zu dem Fre^pruch bekannt sind.

Aus dem Prozeßverlauf erscheinen uns die Aussagen zweier Mediziner besonders gefährlich. In der einen gab der behandelnde Arzt zu, das Schlafmittel zur Tötung des Neugeborenen bewußt verschrieben zu haben, in der zweiten erklärte ein anderer Arzt, er hätte den Tod des Kindes als natürlichen bestätigt, wenn ihm die Gewähr gegeben worden wäre, daß von der Tötung des Kindes nichts bekannt würde.

Es soll hier nicht zur Frage der Freigabe von Thaliomid (Contergan) durch die Gesundheitsbehörde Stellung genommen werden; seine schädliche Wirkung ist heute durch die Zunahme von Mißgeburten nach dem Genuß dieses Medikamentes in der Gravidität erwiesen. Es sollen vielmehr zwei Abschnitte in der Tragödie beleuchtet werden, die schließlich zum Prozeß führten. Einmal scheint uns die Einstellung der Schwangeren bemerkenswert, die überhaupt Voraussetzung zur Einnahme dieses Medikamentes ist, das andere Mal die Einstellung des Arztes zur Tötung eines mißgebildeten Neugeborenen.

Voraussetzung zur Einnahme beziehungsweise Verabreichung eines Medikamentes ist auf der einen Seite die Bereitschaft der Patientin dazu, auf der anderen die Bereitwilligkeit des Arztes, ein Medikament zu verordnen. Die Schwangeren, die Thaliomid-Prä-parate erhielten, bekamen sie in der überwiegenden Mehrzahl wegen „nervöser“ Beschwerden. Bei einem großen Teil der Bevölkerung besteht die Tendenz, gegen die leichtesten nervösen Störungen, die sich in Stimmungsschwankungen, gesteigerter Reizbarkeit oder depressiver Verstimmung äußern, zur Beseitigung von Hemmungen, Erleichterung von Spannungen usw. medikamentöse oder ärztliche HiJfe in Anspruch zu nehmen. Es besteht allerorts die Tendenz, auch nur leichte Unlustgefühle mit Hilfe von Medikamenten oder psychotherapeutischer Behandlung wegzuschaffen.

Es ist heute die Bereitschaft der Menschen, derartige Mittel anzunehmen, viel größer als noch vor einem Jahrzehnt. Daran tragen auf der einen Seite die pharmazeutische Industrie, auf der anderen w i r Ärzte Schuld. Die große Bedeutung der sogenannten psychotropen Drogen ist evident, und es wäre absurd, die pharmakologische Forschung im Hinblick auf Zwischenfälle, wie sie durch Thaliomid verursacht wurden, abzustoppen, da jene aus der Behandlung von Geistes- und Gemütskrankheiten, aber auch bestimmter Neurosen nicht mehr wegzudenken sind. Abzulehnen ist aber die Reaktion der Ärzte, Leuten, die sie wegen harmloser psychischer Störungen aufsuchen, ein Medikament gleichsam aufzudrängen, wenn eine kurze Aussprache oder Aufklärung diesen Beschwerden die Wichtigkeit nehmen könnte. Umgekehrt verlangen aber die Menschen infolge ihrer oben angeführten Einstellung wegen Lappalien zu oft ein Medikament. Hier treffen sich dann die Bereitschaft des angeblichen Kranken mit der Bereitwilligkeit des behandelnden Arztes. Es ist doch sehr fraglich, ob die vielen schwangeren Frauen tatsächlich psychisch so schwer krank waren, daß sie Thaliomid erhalten mußten. Wenn man bedenkt, daß bis zur Einführung der psychotropen Drogen, das ist bis vor höchstens 15 Jahren, schwangere Frauen über psychische Beschwerden ohne Medikamente hinweggekommen sind, fragt man ;ich, warum die Frauen heute plötzlich diese Medikamente fordern und erhalten.Durch Jahrtausende wurden Kinder ohne beruhigende Arzneien ausgetragen und entbunden, und auch jetzt noch benötigt sie der überwiegende Teil der Frauen nicht. Damit will gesagt sein, daß die Mentalität, möglichst jedem Unlustgefühl auszuweichen, erst die Bereitschaft zur Einnahme eines Medikamentes schafft und den Arzt zur Verschreibung verleitet. Es besteht somit eine Wechselwirkung zwischen dieser Bereitschaft und der Bereitwilligkeit, die beiden Teilen bequem ist. Diese Einstellung darf natürlich nicht verallgemeinert werden, da der weitaus größere Teil der Frauen die Einnahme von Medikamenten in der Schwangerschaft ablehnt und sogar häufig Eingriffe, die eventuell eine Schädigung der Frucht bewirken können, wie zum Beispiel Röntgenaufnahmen, in übertriebener Ängstlichkeit verweigert. Ebenso zurückhaltend verhält sich der Großteil unserer Ärzteschaft.

Man wird natürlich mit Recht einwerfen, daß die schädliche Wirkung des Contergän oder ähnlicher Präparate bis dato nicht bekannt war und daß die pharmazeutische Industrie für die Zwischenfälle verantwortlich sei. Hierzu sei bemerkt, daß die Medikamentenwirkung im Tierversuch und beim Menschen nicht immer gleich ist und daß zwangsläufig Substanzen, die auf die Psyche des Menschen wirken, im Tierversuch niemals verläßlich getestet werden können. Man darf hier die Verantwortung nicht abschieben: sie trifft den Menschen, der ein Medikament für nichtige Beschwerden Verlan?*, und den Arzt, der es aus diesem Anlaß verordnet. Es geht nicht art, einer Graviden, wenn es sich nicht tatsächlich um Behandlung einer Krankheit handelt, Mittel zu verordnen, bloß um Bagatellbeschwerden zu bekämpfen, auch wenn diese Arzneien als vorkommen unschädlich angepriesen werden. 'Der Arzt darf dje 'Medika-m'entensucht ' der Bevölkerung nicht' unterstützen.

Hierzu noch ein Gesichtspunkt. Wäre es nicht möglich, daß die Neigung einer Mutter, jedes Unlustgefühl in der Schwangerschaft mit Medikamenten zu bekämpfen, dieselbe tiefenpsychologische Wurzel hätte wie die von ihr durchgeführte Tötung des mißgestalteten Neugeborenen? Es könnte nämlich sein, daß das Mitleid mit dieser Mißgeburt auch ein Mitleid mit sich selbst ist, wenn die Mutter mit der Tatsache konfrontiert wird, ein derartiges Kind zu betreuen. Dieses Mitleid ist dann aber nichts arideres als def Ausdruck einer •egoistischen Haltung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung