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Spätfolgen der Pille

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Die letzen 30 Jahre haben weltweit den Siegeszug der Ovulationshemmer ge- bracht. Man hat sie als be- freiend für das Sexualleben gefeiert, ihre Nebenwirkun- gen aber lange übersehen.

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Die letzen 30 Jahre haben weltweit den Siegeszug der Ovulationshemmer ge- bracht. Man hat sie als be- freiend für das Sexualleben gefeiert, ihre Nebenwirkun- gen aber lange übersehen.

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Der große Durchbruch bei der Geburtenregelung kam mit der Einführung der Pille in den späten fünfziger und frühen sechziger Jah- ren. Sie wurde von Gregory Pincus entwickelt, in Costa Rica und Haiti erprobt und dann auf den Markt gebracht. Die Spirale gab es schon zu Beginn dieses Jahrhunderts, damals aus Keramik. Wegen der schlechten Erfahrungen mit ihr wurde wieder auf ihre Verwendung verzichtet. Sie erlebte erst im Zeit- alter der synthetischen Materialien ein Comeback.

Was das Kondom anbelangt, so war es lange Zeit in Verruf geraten und von den anderen Methoden verdrängt. Durch die Verbreitung von Aids erlangte es neuerlich ei- nen zweifelhaften Ruf.

Fraglos waren aber die Ovula- tionshemmer jene Erfindung, die den Durchbruch bei der Geburten- regelung brachten. Folgende Me- chanismen spielen bei den Ovula- tionshemmern eine wichtige Rolle: DieOvulationshemmung selbst, die Wirkung auf den Zervixschleim, der Tubenfaktor (der Einfluß auf die Eileiter) und die Verhinderung der Einnistimg.

Zunächst ist es zweckmäßig, kurz die Empfängnis und die Entwick- lung des neuen Menschen in seinen ersten Lebensstadien darzustellen: Von derScheide gelangt der Samen zum Gebärmutterhals. Dort pro- duzieren Drüsen einen Schleim, derentweder (während der unfrucht- baren Zyklustage) als Barriere, sonst aber als Nahrung für die Samenzellen dient. Diese setzen ihren Weg in die Gebärmutter und in die Eileiter fort. Dort stoßen sie auf die Eizelle, die bei der Ovula- tion (dem Eisprung) aus den Eier- stöcken kommt.

Nach der Befruchtung beginnt die Entwicklung des neuen Menschen, der durch die Eierstöcke in die Gebärmutter „wandert". Das dau- ert einige Tage. Dort nistet sich der Embryo in der Gebärmutterwand ein, was seine Ernährung und damit sein Wachstum gewährleistet.

Die Pille sollte zunächst durch

Einsatz hoher Dosen von weibli- chen Hormonen die Tätigkeit der Eierstöcke lahmlegen. Aufgrund negativer Nebenwirkungen mußte man aber den Hormongehalt der Ovulationshemmer verringern. Bei Beobachtungen konnte nachgewie- sen werden, daß es in sieben Pro- zent der Zyklen dennoch zu einem Eisprung kommt. Das ergibt jedes- mal die Möglichkeit einer Befruch- tung und damit einer Schwanger- schaft.

Die Rate der Schwangerschaften war aber geringer als die erwähn- ten sieben Prozent. Daher wurde danach gesucht, welche andere Faktoren hier einen Einfluß hatten.

Zwei Mechanis- men waren wirk sam: der Tuben- faktor und die Verhinderung der Einnistung.

Die Hormon- gabe beeinträch- tigt nämlich die Bewegungen der Eileiter. Dadurch wird der Trans- port des Embryos verlangsamt. Das führt dazu, daß der Embryo bei Erreichen der Gebärmutter oft zu alt ist und nicht mehr über- leben kann. Er trocknet im wahrsten Sinn des Wortes aus und erlebt die lebensrettende Implantation, die ihn mit der für seine weitere Entwicklung notwendigen Ernährung ver- sorgen würde, nicht mehr. Das ist eine Form der Frühabtreibung.

Die Pille ändert weiters die Kon- sistenz der Ge- bärmutterwand in solcher Weise, daß selbst wenn der Embryo die Gebärmutter rechtzeitig er- reicht, die Einni- stung nicht statt- finden kann, weil die Gebärmutter- schleimhaut nicht ausrei- chend aufgebaut ist. Die Folge: Der

Embryo stirbt. Eine weitere Form der Frühabtreibung.

Was sind nun die Nebenwirkun- gen der Pille? Über diese Frage gibt es große Kontroversen. Diese Ne- benwirkungen waren alle Ende der sechziger Jahre bekannt. Aber es dauerte 20 Jahre, bis sie sich auch in der Öffentlichkeit herumgespro- chen haben. Folgende sind die all- gemein anerkannten wichtigsten Nebenwirkungen der Ovulations- hemmer:

• Herz-Kreislauf-Beschwerden: Das „Royal College of General Prac- titioners" hat 1977 eine retrospek- tive Studie und 1981 eine Prospek- tivstudie, die jeweils 200.000 Frau- enjahre in Großbritannien erfaß- ten, veröffentlicht. Diesen Studien zufolge hatten Frauen, die Pillen nahmen oder früher genommen hatten, bei Herz-Kreislauf - Erkran- kungen sowie bei Gehirnschlag eine um 4 0 Prozent höhere Todesrate als der Durchschnitt. Das Risiko stieg mit dem Alter (besonders deutlich bei über 35jährigen Frauen) und war vervielfacht bei Raucherinnen.

Weitere Studien haben dieses Ergebnis bestätigt: Es gibt ein ein- deutig erhöhtes Thrombose-Risiko bei der Pille. Das gilt sogar für die Altersklasse der 17- bis 24jährigen. Das Eintreten der Nebenwirkun- gen verringerte sich, auch nachdem die Östrogen-Dosen der Pillen re- duziert worden waren, nicht. Das Thrombose-Risiko war sogar be- sonders hoch bei manchen der neuen Mikro-Pillen, die Gestagen enthiel- ten. Das Risiko war so groß, daß das westdeutsche Gesundheitsministe- rium sich verpflichtet sah, eine diesbezügliche Warnung herauszu- geben.

Vermerkt seien aber auch die Abwehrhandlungen der Pillenher- steller, die versucht haben, das Mittel von diesem Verdacht reinzu- waschen. Das deutsche Ministerium hätte aber sicher nicht grundlos eine öffentliche Warnung erlassen.

• Ovulationshemmer begünstigen weiters Infektionen. Einige Studien wiesen zwar auf ein verringertes Auftreten von Entzündungen im Beckenraum hin. Neuere Studien (zwischen 1987 und 1989) haben genau das Gegenteil bewiesen. Frauen, die die Pille nehmen, sind um 70 Prozent häufiger von Chla- mydien- und Gonokokkeninfektio- nen betroffen, als jene, die keine Ovulationshemmer nehmen. Diese Infektionen führen zu häufigeren Eileiterschwangerschaften und Frühgeburten und zuSterilitätDas Neugeborene selbst kann während des Geburtsvorgangs angesteckt werden, was zu Lungenerkrankun- gen führt.

Eine kürzlich in den USA veröf- fentlichte Theorie geht von einer möglichen Beziehimg zwischen der Aids-Verbreitung und der Verwen- dung von Ovulationshemmern aus - unabhängig von Sexualpraktiken: Da Ovulationshemmer Steroide Hormone (dem Kortison ähnlich) sind, schwächen sie das Immunsy- stem und könnten damit nicht nur die Verbreitung von Chlamydien- infektionen, sondern auch von Aids begünstigen.

• Weiters gibt es ein erhöhtes Krebsrisiko: Beim Gebärmutter- halskrebs steigt es mit der Hor- mondosis und der Verwendungs- dauer der Pille. Wer 20 oder mehr Zigaretten raucht, erhöht damit auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Krebsart auf das Drei- bis Vierfache. Höherer Alko- holkonsum ist für präkanzeröse Veränderungen verantwortlich. Außerdem wissen wir heute, daß je früher die sexuelle Betätigung ein- setzt, je weniger hygienisch der Sexualpartner ist und je häufiger Partner gewechselt werden, umso früher sich auch die Wahrschein- lichkeit für das Auftreten eines Zervixkarzinoms erhöht. Ein solches Verhalten steht wiederum in engem Zusammenhang mit moder- ner Verhütung.

Das Risiko, Brustkrebs zu bekom- men, erhöht sich mit der Dauer der Einnahme von Ovulationshem- mern. Dies wurde durch eine Stu- die bestätigt, die der „Imperial Cancer Research Fund" (Oxford) durchgeführt hat. Sie wurde im Vorjahr in „Lancet" veröffentlicht. Auch Henry Joyeux, ein französi- scher Krebsforscher, weist auf eine signifikante Beziehung zwischen Püle und Brustkrebs hin. Weil die- se Karzinome erst nach vielen Jah- ren auftreten, sind Studien, die nur auf Kurzzeitbeobachtungen auf- bauen und eine solche Beziehung leugnen, unbedeutend. Derzeit beobachtet man eine explosive Zunahme des Auftretens von Brust- krebs. Dennoch wird dies in Euro- pa - im Gegensatz zu den USA, wo der Pillenkonsum rasch abnimmt - kaum diskutiert. In China wendet man sich neuerdings Methoden natürlicher Empfängnisregelung zu, weil die Sterilisation und die Ovulationshemmer zu teuer sind und weil die Brustkrebsrate stark steigt.

Die Pille länger als vier Jahre lang zu nehmen, bedeutet auch ein erhöhtes Haut- und Leberkrebsri- siko.

• Erwähnt werden müssen auch noch die psychologischen und die das Sexualempfinden beeinflussen- den Nebenwirkungen. Die Pille kann eine depressive Stimmung för- dern, was bis zu tiefer Depression führen kann. Besonders bei längerer Einnahme dieser Mittel kommt es bei einer wachsenden Zahl von Frauen zu verringerter Libido. Das dürfte sowohl auf die Wirkung der Hormone, als auch auf die Tren- nung von Sexualität und Fortpflan- zung zurückzuführen sein.

Es sei nur vermerkt, daß auch ein kompletter Libido-Verlust nach Absetzen der Pille wieder rückgän- gig gemacht werden kann. Das wurde häufig bei einem Wechsel zu natürlichen Methoden der Emp- fängnisregelung festgestellt.

• Immer häufiger treten auch Ano- malien bei Babys auf, wenn ihre Mütter trotz Einnahme der Pille schwanger werden oder wenn sie die Pille erst kurz vor der Schwan- gerschaft abgesetzt haben (kürzer als sechs Monate). Das konnte an histologischen Befunden bei Spon- tanaborten nachgewiesen werden. Vielleicht werden sich Chromoso- men-Störungen bei den Überleben- den erst in der nächsten Generation zeigen.

Wer die Literatur über die Pille durchsieht, findet sehr wider- sprüchliche Ergebnisse. Es kommt nicht selten vor, daß einer Studie sofort von einer folgenden wider- sprochen wird.

In der Rechtssprache heißt der Grundsatz: „In dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten). Das gilt auch für die Medizin. Hier soll- te man im Zweifel für den Patien- ten entscheiden. Der Arzt ist sei- nem hippokratischen Eid verpflich- tet. „Vor allem niemandem scha- den".

So muß man aber feststellen, daß noch nie ein so komplexes Präparat so vielen gesunden Menschen ohne medizinischen Grund verabreicht worden ist. Niemals auch hat man ein Medikament nach Entdeckung so schwerwiegender Nebeneffekte dennoch auf dem Markt belassen, wie dies bei der Pille der Fall ist. Niemals gab es auch ein Produkt, das der pharmazeutischen Industrie gleich viel Geld eingebracht hat. In den USA wurde die Pille als der größte Geldbringer im Pharma- Bereich bezeichnet.

Der Autor ist Arzt am Kantonspital in Frauen- feld, Schweiz, sein Beitrag ein Auszug aus sei- nem Vortrag beim XVI. Internationalen Fami- lienkongreß vom 12. bis 15. Juli in Brighton.

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