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Fast eine moderne Epidemie

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In der Kindheit wird die Neigung zur Depression oft schon grundgelegt. Kinder zu früh in außerhäusliche Betreuung zu geben, bringt Probleme.

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In der Kindheit wird die Neigung zur Depression oft schon grundgelegt. Kinder zu früh in außerhäusliche Betreuung zu geben, bringt Probleme.

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Eine Untersuchung von 43.000 Personen in Nordamerika, Europa, Asien, Neuseeland und im Nahen Osten hat vor kurzem einen erschreckenden Tatbestand erhärtet: „Unabhängig von kulturellen, sozialen und biologischen Faktoren”, so schreibt Myrne M. Weissman von der New Yorker Colombia Universität, die diese Daten im Ärzteblatt „Journal of the American Medical Association” veröffentlichte, habe sich die Rate der depressiv werdenden Jugendlichen weltweit erhöht. Ja, jede nachwachsende Generation dieses Jahrhunderts neige mehr zu Depression als die ihrer Väter und Großväter.

Das relative Risiko einer beliebigen Altersgruppe steige gegenüber der jeweils zehn Jahre älteren im Schnitt fast um das Doppelte — und das weltweit. Von den Amerikanern, die zwischen 1915 und 1924 geboren wurden, erkrankte weniger als einer von 25 an Depression, meist im Alter von 45 Jahren oder später. Bei den jüngeren Amerikanern nimmt das Risiko einer Depression deutlich zu: eine von 17 Personen erkrankt. Der Ausbruch der Krankheit droht bereits im Alter von 17 bis 25 Jahren.

Schon Mitte der achtziger Jahre hatte eine Studie der Universität von Missouri ergeben, daß von den Menschen aller Altersgruppen Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren am häufigsten an Depressionen leiden. Wie läßt sich die rasante Zunahme weltweit erklären?

Die Forschungsarbeiten der sogenannten Neoanalytiker der Berliner -nach ihrem Gründer so benannten -Schultz-Hencke-Schule sind geeignet, eine Erklärung zu finden. Sie entwickelte in den fünfziger Jahren - dominiert von den Ärzten Annemarie Dührssen und Werner Schwidder -die sogenannte Antriebslehre. Sie führten die neurotische Depression auf die Beschädigung des sogenannten oralen Antriebs, aber zusätzlich auf die Beschädigung des sogenannten intentionalen Antriebs im Säuglingsalter zurück.

Besonders bei Kindern und Jugendlichen in der psychotherapeutischen Praxis bestätigte sich diese Theorie: Bei jugendlichen Depressiven ergaben ausführliche Erhebungen über die Säuglingszeit mit den meist noch vorhandenen und bemüht mitarbeitenden Müttern, daß durch unzureichende Befriedigung dieses Antriebs ein Fehlverhalten eingebahnt wurde, das typische Erstsymptome in der Kindheit - vor dem Ausbruch der ebenso typischen manifesten Depression im Jugendalter oder im jungen Erwachsenenalter - hervorrief. .

In der praktischen Arbeit wurde sichtbar, daß diese Neurosenstruktur bereits unter den Kindern der sechziger Jahre in der Bundesrepublik zunahm. Woran lag das? Warum kam es zu solchen Zunahmen früher oraler Mangelerlebnisse ausgerechnet im immer mehr ansteigenden Wohlstand?

Das ließ sich durch Beobachtung bald erklären: Es waren vor allem die ungestillten Kinder, die diese suchtartige Oralität entwickelten. Sie wurden zu Nägelkauern, zu fettleibigen (28 Prozent unserer Grundschulkinder sind zu dick), zu Kaugummikauern und vom zwölften Lebensjahr an zu Zigarettensüchigen. Mit zunehmendem Wohlstand und den so bequemen, das Leben erleichternden Ersatzpräparaten stillte ab 1955 kaum eine Mutter ihre Kinder noch die ersten sieben bis neun Monate lang und die allgemeine Verwöhnung nahm von Jahrgang zu Jahrgang zu. Da konnte man - wenn die Antriebslehre und die eigene Mutmaßung, daß Verwöhnung von den Menschen als Mangel erlebt wird, richtig waren -voraussagen, daß eine furchtbare Plage auf die jungen Familien zukommen würde.

Denn Kinder mit oralen Antriebsschäden sind nicht etwa aufgrund des eigentlichen depressiven Hintergrundes traurig; sie sind lästige, schwierige, unzufriedene Kinder, weil sie wie hungrige Kuckucksvögel Riesenansprüche haben, nach Sofortbefriedigung heischen, mißlaunig und aggressiv ihren Angehörigen das Leben schwer machen, und zwar umso scheußlicher, je älter sie werden.

Heute, nach 30 Jahren, hat sich diese Neurosenform verzigfacht. Immer mehr der beeinträchtigten Kinder werden erwachsen - damit aber selten weniger schwierig. Manche werden aufgrund ihrer müden Passivität, ihrer „Aktivitätsatrophie” gar nicht erst richtig arbeitsfähig. Große Massen in ihrer Arbeitskraft gehinderte Menschen aber müssen den Fortbestand der Gesellschaft gefährden.

Die Antriebslehre spricht zum zweiten von einem sogenannten in-'tentionalen Antrieb, dem Trieb, sich mit Interesse der Welt zuzuwenden. Er entfaltet sich, so meinten Schultz -Hencke und Dührssen, ebenfalls bereits im Säuglingsalter. Auch er ist nach der Antriebslehre verstörbar, hemmbar, „wenn dem Kind die warme, volle und reichhaltige Zuwendung zur umgebenden Welt abgeschnitten wird und so die positive Ge-stimmtheit, die das Lebensgefühl eines kleinen Kindes ausmachen sollte, in ihr Gegenteil verkehrt wird” (Dührssen).

Diese negative Gestimmtheit, so stellten die Forscher fest, wird besonders dann zum Charakterzug der Interesselosigkeit, der Kontakt- und Liebesunfähigkeit, wenn die Betreuung durch die Bezugspersonen des ersten Lebensjahres unzureichend blieb, wenn nicht eine liebevolle Mutter dauernd präsent war, was sich an Heimkindern, hospitalisierten und vernachlässigten Kindern hinreichend studieren und verifizieren ließ.

Diese Charakterprägung begann sogar unter den Familienkindern in den vergangenen zwei Jahrzehnten sprungartig zu steigen, meist gekoppelt mit den erstgenannten oralen Schäden. Man konnte auch im Einzelfall an den Vorgeschichten ablesen, woran das lag: Immer mehr Eltern „organisierten” harmlos und unwissend das Leben ihrer Säuglinge und Kleinkinder. Sie gaben sie einmal hierhin und einmal dorthin zur Betreuung, weil sie das erstmalig in der Geschichte der Menschheit tun konnten, ohne das Leben ihrer Babys zu gefährden - darüber hinaus, weil ein Trend zur Berufstätigkeit der Familienmutter auch von kleinen Kindern einsetzte und weil die Diffamierung der „Nur-Hausfrau” diese Lebensform der Kleinkinder zusätzlich begünstigte.

Dieses Großexperiment mit einer Verkünstlichung der Pflege junger Kinder hat sichtbar werden lassen: Wie die höheren Säugetiere, wie jede Pflanze hat auch der Mensch für sein Gedeihen, für die seelisch gesunde Entfaltung seines Gehirns Bedingungen, die nicht ungestraft nach eigenem Belieben abgewandelt werden dürfen, ohne daß in das unreife Gehirn eine Neigung zu neurotischer Depression eingeprägt wird. In Schwellen- und Krisensituationen gerät sie in Gefahr auszubrechen.

Besonders in der Ißjährigkeit ist das so. Sie ist eine Phase der oft übersteigerten Selbstkritik. Der Jugendliche beginnt, sich in Frage zu stellen. Hat er nun aber auf dem Boden der psychischen Beschädigung ein unzureichend entwickeltes Selbstwertgefühl, so endet die überkritische Abwägung oft mit einer depressionsbedingten vernichtenden Verurteilung des jungen Menschen selbst. Das setzt die spezifischen Facetten einer manifesten neurotischen Depression in Gang. Dabei müssen die vielfältigen Symptome als Selbstheilungsversuche der zum Unwert verurteilten Seele aufgefaßt werden: Als Einverleibungssüchte von der Freßsucht, der Kaufsucht, der Spielsucht bis zur Stehlsucht; als Betäubungsversuche gegen die Lähmung des Antriebs durch Alkohol- und Nikotinabusus bis zum Verfallen an die Bauschgifte; als Trotzreaktion gegen die Verzweiflung in Bandenzusammenschlüssen und aggressiven Primitivreaktionen.

Die neurotische Depression ist eine vom leichtfertigen Macher Mensch eingehandelte kollektive Schwächung seiner Nachkommen im technisierten Zeitalter. Sie beweist, daß der Mensch sich nicht nur in der Physik an naturgesetzliche Vorgaben zu halten hat. Die neurotische Depression läßt sich in der Mehrzahl der Fälle vermeiden, wenn die Neugeborenen leibnah gehalten, nach Bedarf gestillt und in den ersten Lebensjahren weitgehend in der Nähe der Mutter, an die sie sich in ihren ersten Lebensjahren gebunden haben, belassen werden.

Freilich gibt es heute einen Hoffnungsschimmer: Die Situation ist in dieser Hinsicht im letzten Jahrzehnt verbessert worden. Selbst in den Kliniken setzt sich das „Rooming-in”-Ver-fahren mehr und mehr durch, weil aufgeklärte Mütter danach den Ort der Geburt ihres Kindes auswählen. Auch die Anleitung zum Stillen hat sich enorm verbessert. 1994 stillten bereits wieder 65 Prozent der Mütter ihre Babys. 1970 waren es aufgrund ärztlicher Desinformation nur noch an die zehn Prozent!

Bemühungen der Regierung um eine Erweiterung der Freistellung berufstätiger Mütter während der frühen Kindheit ihrer Sprößlinge machte auch die depressionsvermeidende Erstbindung an die Mütter wieder eher möglich. Allerdings gehen sie dann häufig zu früh ihrer Berufstätigkeit wieder nach, so daß die Gefahr unzureichender Geborgenheit der Kinder noch nicht hinreichend gebannt ist. Ganztagsbetreuung von Kindern in Krippen und Kindertagesstätten, Allein-gelassen-Sein mit dem Fernseher als Babysitter wirken negativ.

Aber insgesamt ist noch nicht alles verloren, weil manche Eltern solchen negativen Auswirkungen entgegenzusteuern suchen. Es gibt immer noch eine erstaunlich große Schicht von Eltern, die in Verantwortung für ihre Familie ihren gesunden Menschenverstand in Abwehr gegen den Zeitgeist zielsicher und pflichtbewußt gebrauchen.

Dennoch wäre es wünschenswert, daß die amerikanischen Großuntersuchungen weltweit ein Informati-ons- und Fortbildungsprogramm der einschlägigen Berufsgruppen hervorrufen würden; denn die Zeit drängt. Mit den Kindern am Lebensanfang urnatürlich umzugehen, ist eine Grundvoraussetzung zum Fortleben einer seelisch gesunden Menschheit in der Zukunft. Sein oder Nicht-Sein, das ist letztlich für die zivilisierten Völker hier die Frage.

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