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Mensch zu werden, ist schwe

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Kinder sind die Überraschung, die nie zuvor war. Kinder bieten das ewig erneute Versprechen, das in der Anfänglichkeit, der Unmittelbarkeit, dem Eifer der Jugend liegt, also die stetige Zufuhr von Andersartigkeit. Kinder bergen in sich das Immer-wie-der-Anfangen. Kinder sind die Hoffnung der Menschheit. Kinder schützen die Menschheit davor, in Langeweile und in Routine zu versinken, und sie sind eine Chance, die Spontaneität des Lebens zu bewahren.“

Diese Sätze hat der deutsche Philosoph Hans Jonas geschrieben. Sie sollten im Vordergrund unserer Überlegungen stehen.

Kinder sind schon vor ihrer Geburt bedroht. Viele sind unerwünscht, ungeplant. Ihre Mütter oder ihre Eltern haben Angst vor der Zukunft, sie fürchten, ihre Ausbildung nicht vollenden, ihre Berufslaufbahn nicht durchlaufen zu können. Viele Frauen sind allein gelassen von ihrem Partner, von ihren Familien.

Oft ist das Leben von Kindern bedroht durch die Umstände der Zeugung (vorehelich, außerehelich, Vergewaltigung, Inzest). Manchmal kommt dazu die Uber-legung, ob es denn überhaupt gestattet sei, in diese gefährdete Welt Kinder zu setzen.

Viele fürchten die Reaktion der Mitmenschen; die Schande, schon ein Kind zu haben, wenn die Mutter sehr jung ist, noch ein Kind zu haben, wenn sie nicht mehr ganz jung ist und schon mehrere Kinder da sind.

Wie kann man diesen Bedrohungen begegnen? Ganz wichtig scheint mir der verantwortliche Umgang mit der Sexualität. Wir müssen allenthalben den Verlust der Zärtlichkeit konstatieren. Viele Menschen glauben, Zärtlichkeit und Zuwendung nur durch den Geschlechtsakt ausdrücken zu können. Ungenügend ist die Information über die Methoden der Empfängnisverhütung und ebenso ihre Anwendung.

Wie eine Frau sich bei einer un-geplanten Schwangerschaft verhält, hängt weitgehend davon ab, wie die Familie und das ganze soziale Umfeld reagieren, Lehrer oder Arbeitgeber, Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen. Stets ist der einzelne Mensch gefordert, wie er es in dieser Frage hält.

In diesen Zusammenhang gehört auch der Fragenkreis der Beratung. Die Beratung ist bedauerlicherweise zu einem politischen Pfand geworden. Wir wissen aus der täglichen Praxis, daß eine gute Beratung, die nicht verurteilend stattfindet, sondern verstehend und helfend, in vielen Fällen zu einer gewissenhaften, nicht übereilten, verantwortlichen Entscheidung zum Kind führen kann. Gefordert sind Fachwissen, Gespräch, Hilfsangebot, Verständnis, Engagement.

Vielfältigen Bedrohungen sind Kinder auch im perinatalen Geschehen rund um die Geburt ausgesetzt. Die Rate der Frühgeburten und der Säuglingssterblichkeit liegt in Österreich im Vergleich zu anderen Industriestaaten verhältnismäßig hoch. Frühgeburten, Säuglingssterblichkeit, Krippentod werden wohl nicht ausschließlich, aber in hohem Maß durch soziale Faktoren mitbestimmt. Dabei spielt die Diskriminierung genauso eine Rolle wie das Versagen der Mitmenschen.

In vielen Krankenhäusern findet noch immer ein herzloser Umgang mit gebärenden Frauen und Neugeborenen statt, manches bessert sich zwar, vor allem durch die Initiative von Frauen, aber es gibt noch viel zu tun.

Ein großer Mangel ist, daß das Wissen über den Umgang mit Kindern immer mehr abnimmt, wohl als Folge der Isolation der klein gewordenen Familien. Wer als Einzelkind aufwächst, hat kaum die Möglichkeit, den Umgang mit Kindern aus eigenem Erleben zu erlernen.

Chancen sehe ich in einer intensiven Geburtsvorbereitung, die ungemein wichtig für Mütter und Kinder ist, damit sie die Geburt, dieses wesentliche Ereignis in beider Leben, unter optimalen Bedingungen erleben können.

Zu reklamieren, und zwar vehement, ist die Unterstützung der alleinstehenden Mütter: Sie bedürfen der Wertschätzung und Annahme, nicht der Diskriminierung.

Es gibt Überlegungen zu Elternschulen, zu einer bewußteren, besser vorbereiteten, besser begleiteten Elternschaft. Hier gäbe es neue Möglichkeiten und Chancen in der Erwachsenenbildung.

Bedrohungen sind Kinder auch durch Mangel an Zuwendung und Förderung ausgesetzt. Dies betrifft etwa Kinder von Gastarbeitern oder von Flüchtlingen, behinderte Kinder, Kinder aus sozial benachteiligten Schichten, Förderung und Hilfestellung könnte so vieles bewirken. Besondere Aufmerksamkeit ist angebracht, wo Kinder seelischen und körperlichen Mißhandlungen ausgesetzt sind.

Bedrohung bedeutet auch die Diskriminierung jener Menschen, die mit Kindern zu tun haben: nämlich die Diskriminierung der alleinerziehenden Eltern, der kinderreichen Familien.

Dies hat durchaus Auswirkungen auf die Kinder. Wenn etwa Mütter oder Eltern finanziell, zeitlich und seelisch überfordert, womöglich noch arbeitslos oder unterbezahlt sind, wie sollen sie den Kindern Sicherheit, Geborgenheit, Glück vermitteln können?

Es gibt verweifelte ökonomische, familiäre, soziale Situationen, in denen die Entscheidung für das Kind buchstäblich Heroismus abverlangt. Viele Betroffene haben Angst davor, zum Helden werden zu müssen, um diese schwierige Situation bewältigen zu können. Viele fühlen sich einfach zu schwach.

Ich frage mich sehr oft, ob ich selbst stark genug wäre, mir unter solchen Umständen eine heroische Haltung zuzutrauen. Diese Überlegungen sind sehr wichtig, denn man muß sich dieser Facetten bewußt werden — auch damit man widersteht, zu verurteilen. Es geht um oft unbewußtes Verhalten in Worten, in den kleinen Gesten des Lebens, in Taten. Es geht auch um Unterlassungen.

Ehe Wiesel, der Friedensnobelpreisträger, schreibt in einer seiner Reden: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit. Und das Gegenteil von Leben ist nicht Tod, sondern Gefühllosigkeit.“ Zwei Chancen, zwei Bedrohungen. Seien wir auf der Hut vor Gleichgültigkeit und vor Gefühllosigkeit;

Die Autorin ist Generalsekretärin der .Aktion Leben“

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