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Die Grenzen der Medizin

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Ob beim Erkennen oder beim Heilen von Krankheiten - stets stößt die Medizin auf Grenzen.

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Ob beim Erkennen oder beim Heilen von Krankheiten - stets stößt die Medizin auf Grenzen.

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Für ein Boulevardblatt wie „täglich Alles” zählt nur eines: soviel zu verkaufen, wie nur möglich. Dazu ist jedes Mittel recht. Tagelang spekulierte das bunte Blatt damit, daß Bundespräsident Thomas Klestil, der seit 12. September mit einer „atypischen Lungenentzündung” im Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) liegt, an Aids erkrankt sei; wider besseres Wissen, und als ob eine' Aids-Erkrankung etwas Verwerfliches und somit zum Skandal Aufbauschbares sei. Mittlerweile steht fest, daß Klestil nicht mit dem HIV-Virus infiziert ist. Doch woran leidet er wirklich?

Ursprünglich kamen 132 verschiedene Ursachen für

Klestils Krankheit in Betracht. Als die wahrscheinlichste Variante galt anfangs eine Kollagenose. „Kollagenose” ist ein Oberbegriff für eine Beihe von Erkrankungen, bei denen das Immunsystem körpereigenes Gewebe angreift. Warum es das tut, ist unbekannt. Mittlerweile glauben die Ärzte, daß Klestil am ehesten unter einer „idiopathischen Alveolitis” (selbstauslösende Lungenbläschenentzündung) leidet. „Selbstauslösend” heißt: ohne erkennbare Ursache. Der Grund für Klestils Erkrankung liegt also im dunkeln - ob er jemals ans Tageslicht kommt, ist fraglich. „Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß wir einen gesunden Bundespräsidenten ohne endgültige Diagnose haben”, fürchtet Josef Smolen, Leiter der Abteilung für Bheumatologie am AKH, um die Glaubwürdigkeit seines Standes.

Daß die Ursache eines Leidens nicht aufgeklärt werden kann, ist keine Seltenheit: In der Abteilung für Infektionen und Chemotherapie am AKH, wo sich Klestil derzeit aufhält, landen zumeist Patienten, bei denen Fieber, Lymphknotenschwellungen oder Gliederschmerzen auf eine Infektion hindeuten. Selbst den dortigen Spezialisten fällt es oft schwer, den Erreger der Erkrankungen auszumachen. Daß der Leiter der Abteilung, Wolfgang Graninger, eine international anerkannte Kapazität auf dem Gebiet der Infektionen ist, ändert nichts daran: „Oft kommen wir nicht drauf, was die Patienten haben. Die gehen dann pumperlgesund nach Hause und wir sterben blöd”, erklärte der für seine Bonmots bekannte Mediziner einem verblüfften Patienten.

„Wir müssen uns eingestehen, daß wir immer wieder an die Grenzen der Medizin stoßen”, bekennt auch Georg Lexer, Primarius des Deutsch-Ordens-Spitals Friesach (Kärnten). Auf Schranken stößt die Medizin natürlich nicht nur bei der Diagnose, sondern auch in ihren Heilungsmöglichkeiten: Gegen die im Vergleich harmlose Schuppenflechte ist die Medizin ebenso machtlos wie gegen die Multiple Sklerose. Auch Krebs, nach den Herz-Kreislauferkrankungen die häufigste. Todesursache in Österreich, kann einwandfrei diagnostiziert werden, doch dem Betroffenen nützt das oft wenig: Bauchspeicheldrüsenkrebs etwa führt mit ziemlicher Sicherheit zum baldigen Tod.

Auch was die Ursache von Krebs angeht, tappt die Medizin im dunkeln. Es gilt zwar als sicher, daß zum Beispiel Zigarettenrauchen das Krebsrisiko erhöht, doch es gibt genügend Raucher, die in bester Gesundheit ein hohes Alter erreichen. Andererseits kann auch jemand, der lebtags nie zum Glimmstengel gegriffen hat, von Lungen- oder Kehlkopfkrebs befallen werden. Ebenso ist es mit den Herz- und Kreislauferkrankungen: Auch wer sich vorbildlich ernährt und ausreichend Bewegung macht, ist davor nicht gefeit.

Nicht alle Menschen können diese Grenzen und Wissenslücken akzeptieren. Heutzutage ist so mancher, für dessen Leiden die Medizin die Ursache nicht klären oder keine wirksame Therapie anbieten kann, überzeugt: Die Umweltverschmutzung ist schuld. Auch wenn es kein wissenschaftliches Verfahren belegen kann - der Ökochonder ist sich sicher, daß er mit Quecksilber oder Dioxin verseucht ist, oder daß ihn Möbellacke, Elektro-smog oder Kunststoffe krank machen. Doch auch er stößt auf Schranken - auch wenn die anderer Natur sind: So ist es der Hamburger „Arbeits- und-Selbsthilfegruppe Umweltkrankheiten” bisher noch nicht gelungen, Räumlichkeiten für ein Beratungszentrum zu finden. Überall fanden sich

Substanzen oder Einflüsse, durch die sich irgendein Mitglied der Gruppe vergiftet wähnte.

Wo die seriöse Medizin Antworten schuldig bleiben muß, bieten auch Scharlatane aller Art ebenso einfache wie falsche Lösungen an. Geistheiler versprechen Besserung durch Handauflegen, eine Schweizerin namens Uriella, die sich für das „Sprachrohr Gottes” hält, veredelt in ihrer Badewanne mittels Silberlöffel schnödes Leitungswasser zu heilendem „Athrumwasser”. Immerhin ein Drittel der Österreicher bezeichnet sich in einer Umfrage des Linzer Meinungsforschungsinstitutes „market” als aufgeschlossen gegenüber „Wunderheilern”.

Dieser Tage stehen Erika und Helmut Pilhar vor Gericht, weil sie ihre krebskranke Tochter Olivia nicht der rettenden Chemotherapie unterziehen lassen wollten. Statt dessen setzten sie sich mit dem todkranken Kind nach Spanien ab, wo das Mädchen von dem ehemaligen deutschen Arzt Byke Geerd Hamer mit dessen obskuren Methoden „behandelt” wurde. Der führte Olivias Tumor auf einen „Verhunge-rungskonflikt” zurück: Allen Ernstes erklärte er, daß die Geschwulst deshalb zu wuchern begonnen habe, weil dem Mädchen das Essen ihrer Großmutter nicht geschmeckt habe. Der in Österreich per Haftbefehl gesuchte Hamer ist davon überzeugt, daß Krebs psychische Ursachen hat und deshalb ausschließlich psychisch geheilt werden könne.

In vielen W7ahngebäuden steckt oft auch ein Körnchen Wahrheit: Psychosomatische Krankheiten, also Erkrankungen, bei denen das seelische Befinden eine wesentliche Bolle spielt, haben in das medizinische Weltbild Eingang gefunden. Auch vertrauen schon viele Schulmediziner nicht mehr alleine auf die kostspieligen medizinischen Apparate. Ganzheitliche Behandlungsmethoden haben Einzug in die Medizin gehalten: „Der Kranke ist meist nicht nur physisch, sondern auch psychisch angeschlagen oder gar gebrochen”, sagt Primarius Lexer, in dessen Spital sowohl Körper als auch Geist behandelt werden. Dadurch würden die Möglichkeiten der Medizin um einiges erweitert, betont Lexer.

Doch Psychiater und Psychotherapeuten wissen ein Lied davon zu singen, daß auch psychische Probleme ohne Auswirkungen auf den Körper nur schwer zu lindern oder zu beseitigen sind. Die Grenzen der Medizin werden mit ganzheitlichen Ansätzen nicht aufgehoben, sondern lediglich verschoben.

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