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Macht und Ohnmacht der Medizin

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Ein nachdenkliches Buch gegen die Hybris der materialistischen, mechanisierten Medizin, die glaubte, mit der Entdeckung der „Erreger“ und Zufuhr von Immunitätsstoffen bereits alle Probleme gelöst und den Arzt zum „Herrn über Leben und Tod“ gemacht zu haben. Tieferes Eindringen in die Problematik der neueren Forschung zeigt jedoch, daß mit der Lösung eines Problems hinter diesem immer wieder neue, größere und schwierigere auftauchen, von deren endgültiger Lösung die Medizin heute weiter entfernt ist als vor,4f.r, Aera der großen Entdeckungen. Hinter der Macht der Medizin offenbart sich deutlich auch ihre Ohnmacht. Mit zunehmender Zivilisation und Beherrschung der Natur durch die Technik entstehen neue, schwere, ungelöste Probleme. Das Wesen der Krankheit ist uns geheimnisvoller denn je.

Die großen Seuchen der Vergangenheit (Pest, Cholera) sind anscheinend gebannt; dafür sind neue Geißeln der Menschheit fühlbar geworden. Die plötzlichen Todesfälle an Embolie und Herzinfarkt, an Verkehrsunfällen usw. haben Ausmaße angenommen, daß die „Zivilisationskrankheiten" zur ernsten Sorge der Sozialhygiene werden. Die Statistik weist ein Ansteigen der Poliomyelitis auf, das erschreckend wirkt: zugleich eine Aenderung de

Charakters der Krankheit, die in zunehmendem Maße Erwachsene befällt. Auch die banalen Erkrankungen, die unter dem Namen „Grippe“ zusammengefaßt werden, sind voller ungelöster Probleme. Bisher gibt es keine sichere Prophylaxe. — Auch bezüglich der Tuberkulose ist es zumindest verfrüht, von einem endgültigen Siege über diese Krankheit zu sprechen. Sicher sind durch Antibiotika und Chemotherapeutika bedeutende Fortschritte erzielt worden; dafür aber hat die Resistenz ' der Erreger zugenommen und zudem ist durch die stark wirkenden Chemikalien die Aller- gie zu einem ernsten Problem, speziell in den USA, geworden. Im Zusammenhang mit zunehmender Denaturierung der Lebensmittel sind Allergie und vegetative Dystonie in Amerika zu alltäglichen schweren Krankheitserscheinungen geworden, deren Kontrolle noch nicht gelungen ist. Immer schwieriger wird die Antwort auf die Frage, die speziell den Laien bewegt: Was i s t Krankheit? Der Versuch der „psychosomatischen Medizin“ hat „den Ansatz der rein naturwissenschaftlich orientierten Medizin fragwürdig gemacht" (S. 148).

Die bisherige, fast ausschließlich im Laboratorium betriebene Art der Tatsachenforschung bedarf notwendig der Ergänzung durch eine universalistisch orientierte Zusammenhang sfot- s c h u n g. Eine solche erst kann die weit ausgreifenden Zusammenhänge überschauen, die vom Tuberkuloseproblem über das Rheumaproblem und die Hormontherapie sowie die Aktivierung der Gewebeatmung zum Krebsproblem und damit zur Frage der Lebensverlängerung hinziehen. Dazu kommt noch die immer verworrener statt klarer werdende Problematik der Psychotherapie: An Stelle ermutigender Heilungen sehen wir einstweilen nur eine zunehmende allgemeine Neurotisierung, über die auch die optimistische Selbsttäuschung mancher Autoren nicht hinwegtäuschen kann.

Der Verfasser wirft eine Menge von Fragen auf, ohne tie beantworten zu können. Er zeigt deutlich die Fülle der ungelösten Probleme in der heutigen Medizin auf, und das ist dankenswert. Einen Ausweg aus der Ratlosigkeit, die sein Buch charakterisiert, zeigt er nicht. Er fragt: Was bedeutet die Krankheit in der menschlichen Existenz; er weist mit den Existentialisten auf die Angst des Daseins als „Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz" hin, aber ohne den Weg zur Ueberwindung dieser Angst zeigen zu können. Das Schlagwort „Ganzheitsmedizin" wird eben nur als „Schlagwort“ gebraucht. Der Erkenntnis, daß nur ein wahrhaft universalistisches Denken die Irrwege der bisher vom Materialismus beherrschten Medizin überwinden kann, ist der Verfasser zwar stellenweise ’erstaunlich nahegekommen, ohne sie aber klar profilieren zu können.

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