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Einheit von Leib und Seele muß wiederhergestellt werden

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Auf der steirischen Ärztetagung im Oktober rückte erstmals die psychosomatische Medizin in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit Prof. Erwin Ringel und der Leiter einer Kinderabteilung für Psychosomatik am Wilhelminenspital in Wien, Primarius Hans Zipiprich sprachen über ein Thema, das, wenngleich immer noch verdrängt und beiseite geschoben, wahrscheinlich bald ein zentrales Anliegen der gesamten Medizin werden wird. Die rasche Technisierung und Industrialisierung unserer Umwelt hat ein soziales Klima geschaffen, dem sich der Einzelne immer weniger gewachsen fühlt. Er wird in seiner leib-seelischen Einheit vernachlässigt, sein emotionales Gleichgewicht ist gestört, der allgemeine Kreativitätsverlust augenscheinlich. Die Folgeerscheinungen zeigen sich deutlich: eine zunehmende Neurotisierung bereits im frühkindlichen Alter, Kontakt- und Verhaltensstörungen und Krankheiten, die unter der Bezeichnung „funktionelle Störungen“ oder „vegetative Dystonien“ mit der üblichen Organmedizin nicht erklärt und noch weniger geheilt werden.können.

Nach Mitscherlich sind 30 bis 40 Prozent sämtlicher Leiden, mit denen die Ärzteschaft zunehmend konfrontiert wird, psychosomatischer Natur. Primarius Zimprich spricht von 48 Prozent Tatsächlich sind Statistiken dieser Art schwer beweisbar, weil Erfolge oder Mißerfolge hier schwer meßbar sind Womit gleichzeitig eine sehr wesentliche Schwierigkeit der psychosomatischen Medizin angesprochen wird: die Unmöglichkeit, niken gehen daher auch in die Hunderte.

Die Beschwerden dieser psychosomatisch Kranken können sich vielfältig äußern, in Übelkeit, Erbrechen, Gastritis, Magengeschwüren, Kopfschmerzen, Schwindelanfallen, Herzneurosen und anderen modernen Zivilisationskrankheiten. Aber auch Diabetes, Asthma, Wachstumsstörungen und sogar Krebs können nach neuesten Forschungen unter Umständen den psychosomatischen Krankheiten zugeordnet werden.

Die verlorengegangene Einheit von Leib und Seele wiederherzustellen, hat sich die psychosomatische Medizin zur Aufgabe gemacht. Wobei allerdings die organische Medizin nicht ausgeschaltet werden darf: zuerst muß feststehen, daß der Patient tatsächlich kein organisches Leiden hat, und erst dann kann die psychotherapeutische Behandlung einsetzen.

Meist sind die Patienten, bevor sie den Psychotherapeuten aufsuchen, von Arzt zu Arzt, von Station zu Station gereicht und mit diesen und jenen Medikamenten überversorgt worden. Kaum jemand jedoch hat nach dem psychosozialen Hintergrund, der Kindheits- und Lebensgeschichte des Patienten, seinen vergangenen und gegenwärtigen Lebensbedingungen gefragt, um darauf eine entsprechende Behandlung aufzubauen. Die Gründe dafür sind verschiedener Natur. Zum einen ist es eine starre, in ihrer eingefahrenen Haltung schwer aufzubrechende Tradition, die das Eindringen neuer Aspekte verhindert Zum anderen ein chronischer Zeitmangel der Ärzte, der pro Patient vielleicht fünf Minuten erlaubt, womit keinesfalls eine Auseinandersetzung mit der Person des Kranken möglich wird Und zum dritten die Tatsache, daß psychotherapeutische Behandlungen außerhalb einer Klinik von den Krankenkassen nicht rückerstattet werden.

Am wichtigsten und auch erfolgreichsten gestaltete sich bislang eine therapeutische Behandlung von Kindern, deren Lebensweg leicht zurückzuverfolgen und bei denen eine Traumatisierung eher zu erkennen ist als beim bereits chronisch leidenden Erwachsenen. Dr. Zimprich spricht daher auch von der Pädiatrie als „Vorkämpferin für die Prophylaxe psychischer Schäden gesunder Kinder durch die krankheitsauslösende Umwelt“.

Ein wichtiger Grundsatz der psychosomatischen Medizin: den Menschen nicht zu objektivieren, sondern in seiner Ganzheit zu belassen, oder - wie Ringel es in einem Gespräch formuliert hat -, jene Mitte wiederzufinden, die wir in der Medizin verloren haben“.

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