Unaufmerksam und hyperaktiv

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Fernsehen ist nicht automatisch schädlich, aber es trägt dazu bei, daß bestehende Schwächen des Kindes verstärkt werden ...

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Fernsehen ist nicht automatisch schädlich, aber es trägt dazu bei, daß bestehende Schwächen des Kindes verstärkt werden ...

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Fernsehen ist für Kinder und Jugendliche das mit Abstand wichtigste Medium. Die durchschnittliche Fernsehzeit beträgt bei dieser Altersgruppe bereits mehr als 20 Stunden pro Woche. Man muß sich jedoch hüten, in dieser Entwicklung nur Nachteile zu sehen. Denn das Medium Fernsehen kann so manches leisten. Es bietet Unterhaltung in den verschiedensten Varianten und es kann durchaus informieren. Aufklärung über Produkte, Information über Veranstaltungen, gesunde Lebensweise und Ernährung, Gefahrenvermeidung bei Sport und im Straßenverkehr, Aufklärung über Sexualität und Kontrazeption finden sich in den unzähligen verfügbaren Programmen ebenso wie weitreichende und verschiedenartige Möglichkeiten für Bildung im weitesten Sinn.

Doch Fernsehen hat auch seine Nachteile. Eine Selbstkontrolle der Programmgestalter gibt es praktisch nicht. Was an Inhalten zu welcher Tageszeit auf das junge Publikum losgelassen wird, bestimmt die Jagd nach der Quote. Zudem kümmern sich auch die Eltern viel zu wenig um die Programmauswahl der Kinder.

Die verbreitete Meinung, es bestünde kein Zusammenhang zwischen Gewalt im Fernsehen und dem Verhalten der Kinder ist längst nicht mehr haltbar: Gewalt im Fernsehen begünstigt eindeutig aggressives und antisoziales Verhalten, macht für Gewalt empfänglich und begünstigt den Eindruck, daß wir in einer schlechten und gefährlichen Welt leben. Ausgelebt wird diese Grundhaltung dann oft später im Leben, besonders dann, wenn die Hemmschwelle durch Alkohol oder Drogenkonsum herabgesetzt wird.

Vorbildwirkung Eine der jüngsten gesicherten Arbeiten über die möglichen Auswirkungen des Fernsehens stammt aus Großbritannien. Dort untersuchte ein Team der Universität Oxford die Auswirkungen eines beliebten TV-Films namens Casualty. Im Film kommt es zu einem Selbstmordversuch mittels Medikamenten-Überdosis. Professor Keith Hawton und sein Team untersuchten in der Folge die Einlieferungsdiagnosen auf den Not-Aufnahme-Stationen großer Spitäler.

Tatsächlich kam es in der ersten Woche zu einem Anstieg der Selbstmordversuche um 17 Prozent. In der zweiten Woche waren es immerhin noch neun. Bei einer Befragung gaben 20 Prozent der Überlebenden an, daß der Film ihre Entscheidung beeinflußt hätte. Damit sind die Auswirkungen einzelner Fernsehsendungen auf das Verhalten (meist jugendlicher) Menschen exakt dokumentiert.

Doch derart dramatische Auswirkungen des TV-Konsums dürften nur die Spitze eines Eisberges sein. Viel gravierender, weil nahezu jeden betreffend, sind die alltäglicheren, banaleren Folgen regelmäßigen TV-Konsums. Denn jede Minute, die vor dem Fernseher verbracht wird, muß zwangsläufig irgendwo anders abgehen.

Die Zeit vor dem Fernseher reduziert die Zeit für Sport, kreative Tätigkeiten und soziale Interaktion, besonders in der Familie. Das hat nicht nur psychische und soziale, sondern auch unmittelbar körperliche Folgen.

Beispielsweise dann, wenn Fernsehen mit unkontrolliertem Essen und Trinken kombiniert wird. Kinder können so leicht in einen Teufelskreis von Überernährung und Bewegungsmangel geraten. Sie werden dick, bewegen sich weniger, sitzen länger vor dem TV und essen dabei. Als "Dicke" verlieren sie den Anschluß an die Gleichaltrigen und kompensieren eben das wieder mit Fernsehen.

Wir Kinderärzte sehen immer häufiger schwer übergewichtige Kinder, die bereits in jungen Jahren unter den klassischen Folgeerscheinungen dieses Lebensstils, wie erhöhten Cholesterin-Werten oder Diabetes, leiden.

Daher mein dringlicher Appell an die Eltern: Gesundes Fernsehen sollte uns gleich wichtig werden wie gesunde Ernährung und gesunde Umwelt!

Dazu gehört immer auch die Förderung positiver Inhalte, manchmal die Reduzierung der Fernsehzeit und die Minimierung negativer Einflüsse.

Das kann zum Beispiel geschehen, indem man in der Familie über die Fernseh-Inhalte diskutiert. In manchen Fällen wird man allerdings um Kontrolle beziehungsweise Verbote nicht herumkommen.

Wer die Wahl hat, hat die Qual und muß somit Zeit und psychische Energie aufwenden, um den eigenen Bedürfnissen und den Bedürfnissen seiner Kinder nachzukommen.

Schwächen verstärkt Ein weitverbreiteter Irrtum ist auch, Kinder wüßten genau, daß Fernsehdarbietungen reine Phantasie seien: Im Gegenteil, Kinder können nicht so einfach zwischen der Wirklichkeit und den TV-Inhalten unterscheiden. Und das gelingt umso schwerer, je jünger die Kinder sind. Für fernsehende Kleinkinder können Wirklichkeit und Fiktion leicht verschmelzen. Sieht ein Kind im scheinbar harmlosen Trickfilm, daß Gewalt und Tod belanglos und jederzeit umkehrbar sind, besteht die Gefahr, daß es deren Wertigkeit auch im richtigen Leben nicht mehr versteht.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Fernsehen soll hier nicht als schlecht oder krankmachend dargestellt werden. Es kann aber Schwächen in der Persönlichkeit des Kindes und in der Struktur der Familie verstärken. Die Medizin kennt heute eine Reihe von psychischen und psychosomatischen Störungen, die in engem Zusammenhang mit übermäßigen TV-Konsums gesehen werden: * Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS): Diese Störung ist zwar nicht neu, tritt in den letzten Jahren jedoch so gehäuft auf, sodaß ein Zusammenhang mit dem Fernsehen zumindest wahrscheinlich scheint.

Sicherlich gab es bereits vor der TV-Ära hyperaktive Kinder und ebenso sicherlich können manche Kinder mehrere Stunden am Tag fernsehen, ohne ein ADHS zu entwickeln, doch hat sich diese Krankheit von einem seltenen Problem zur mittlerweile sehr häufigen Diagnose entwickelt. Der Zusammenhang mit den TV-Konsum ist einfach: Die Betroffenen leiden unter einer extremen Beschleunigung der inneren Uhr. Sie schwanken zwischen kurzfristiger Begeisterung und Fadesse, sind sprunghaft, fahrig, können sich nie lang auf eine Sache konzentrieren. Schulschwierigkeiten und soziale Probleme sind die unvermeidlichen Folgeerscheinungen.

* Teilleistungsschwächen: Darunter versteht man Minderleistungen in eng umschriebenen Bereichen, denen kein Intelligenzdefizit zugrundeliegt. Solche Störungen können zu erheblichen Problemen in der Schule führen. Es gibt unter anderem Rechen-, Lese-, Sprech- oder Schreibschwierigkeiten. Auch eine Störung des räumlichen Denkens gehört in diesen Bereich. Die Ursachen von Teilleistungsschwächen sind keineswegs vollständig geklärt. Betrachtet man jedoch die Theorie der Ergotherapeutin A. J. Ayres, so wird ein Zusammenhang mit zu viel Fernsehen wahrscheinlich.

Schlafstörungen Ayres meinte, daß sich im Laufe der kindlichen Entwicklung komplexe Leistungen aus einfacheren zusammenfügen. Das Problem ist nun, daß Kinder, die extrem viel Fernsehen, viele Stunden am Tag ausschließlich auf sehen und hören "geschaltet" sind. Alle anderen Sinne kommen dabei zu kurz, die Integration kann nicht stattfinden.

* Angstzustände: Gewalt im Fernsehen kann Angst auslösen. Was Erwachsene als Nervenkitzel empfinden, kann bei Kindern zu permanenten Zuständen der Angst führen. Allerdings ist hier selten das Fernsehen alleine schuld, doch die Kombination von zu viel TV und mangelnder Kommunikation in der Familie kann zu ernsten Störungen führen. Tiefsitzende Ängste sind häufig auch die Wurzeln kindlicher Depressionen und Aggressionen.

* Schlafstörungen: Sowohl Einschlafstörungen als auch immer wiederkehrende Alpträume bei Kindern können durchaus von zuviel TV-Konsum herrühren. Auch diese Störungen werden von Kinderärzten und -psychiatern immer öfter gesehen.

* Psychogene Schmerzen: Auch Schmerzen können als Folge der Angst auftreten. Typisch für psychogene Schmerzen ist, daß das Kind keine genauen oder sogar widersprüchliche Angaben macht, seit wann die Schmerzen bestehen, wo sie lokalisiert sind und wie lange sie dauern. In der Praxis wird der Verdacht auf psychogene, durch Fernsehen ausgelöste Schmerzen (nach Abklärung möglicher körperlicher Ursachen) durch absolutes Fernsehverbot für sechs bis acht Wochen untersucht. In vielen Fällen verschwinden die Schmerzen dann ohne weitere Therapie.

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