Die täglichen Erziehungsk(r)ämpfe

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Gewalt schafft Einschaltquoten. Aber brauchen wir erst den Einbau eines "TV-Gewaltchips", um unsere Kinder vor Gewalt, Sex und Crime zu schützen?

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Gewalt schafft Einschaltquoten. Aber brauchen wir erst den Einbau eines "TV-Gewaltchips", um unsere Kinder vor Gewalt, Sex und Crime zu schützen?

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Alle drei Minuten Gewalt im ORF", dies war das alarmierende Ergebnis einer Untersuchung, die die Innsbrucker Forschungsgruppe MediAwatch für die Tageszeitung "Der Standard" durchführte. Sieben aggressive Akte zählten die Forscher pro Sendung durchschnittlich. Den höchsten Aggressionsindex orteten sie in beliebten Kindersendungen: "Tiny Toons" ist Spitzenreiter, gefolgt von "Tom & Jerry" und "Hero Turtles". Die Analyse der kindlichen TV Gewalt-Landschaft wird eindeutig von US-Produktionen dominiert. Vorabendserien sind neben den morgendlichen und nachmittäglichen Zeichentrickfilmen der zweitgrößte Gewalt-Brocken.

Aber nicht erst bei Ausstrahlung besonders brutaler Streifen wie "Rambo", "Terminator", "Natural Born Killers", auch bei anderen Action- oder Sex-geladenen Programmen könnte auch bei uns bald schon eine elektronische Kindersperre für Mattscheibe sorgen. In den USA schreibt das neue Telekommunikationsgesetz schon ab diesem Jahr den Einbau eines sogenannten V-Chips (V für Violence = Gewalt) in jedes neue TV-Gerät vor. Mit Hilfe dieser elektronischen Sperre kann Fernsehprogrammen mit zu hohem Anteil an Gewalt, Sex und Crime der Hahn abgedreht werden.

Höchste Zeit, daß ein elektronisches Helferlein kommt, werden nun viele, von alltäglichen Erziehungsk(r)ämpfen rund ums Fernsehen genervte Eltern denken! Und angesichts der Ausmaße, die der TV-Konsum allerorten annimmt, wäre ein Gefühl der Erleichterung durchaus verständlich: Durchschnittlich 16.000 Stunden verbringt jedes Kind bis zum 15. Lebensjahr vor dem Bildschirm, bis zum 18. Lebensjahr hat ein Jugendlicher an die 13.000 Fernsehmorde "konsumiert". Gewalt macht (Zuschauer)-Quote, das gilt ganz besonders für die heranwachsende Medien-Klientel! Kinder sind bekanntlich ganz besonders anfällig für Gewaltdarstellung. Experten haben die Auswirkungen medialer Gewaltlawinen auf die kindliche Psyche untersucht. Sie verweisen auf die zunehmende Gewalttätigkeit von Kindern im Umgang miteinander. Ein besonderes Problem stellt die Abstumpfung dar, stundenlanges, wiederholtes Ansehen von Wrestlingkämpfen etwa senkt die Hemmschwelle in körperlichen Auseinandersetzungen beträchtlich. Brutalität, Gewalt, absichtlich-bewußtes Zufügen von Schmerz wird als Spaß erlebt und nach dem Prinzip des "Lernens am Modell" auf Kämpfe mit Gleichaltrigen übertragen.

Aber, so unbestritten negativ sich gehäufte mediale Gewaltszenen auf Kinder und Jugendliche auch auswirken, brauchen auch wir hierzulande den V-Chip nach amerikanischem Muster? Ist das nicht die Bankrotterklärung jeglicher Medienerziehung, die in vielen Familien und in der Schule erfreulicherweise vielfach noch einen sehr hohen Stellenwert hat? Sollen wir den täglichen Kleinkrieg mit unseren Kindern um Inhalt und Ausmaß des täglichen Fernsehkonsums aufgeben und uns künftig auf den Einsatz eines elektronischen TV-Schutzengels in Form von Mikrochips verlassen?

Sicherlich, die Perspektive hat etwas Verlockendes für Eltern. Der tägliche Fernsehkonsum der Kinder ist ja bekanntermaßen eines der aufreibendsten, ständig wiederkehrenden Konfliktthemen in nahezu allen Familien. Wie verlockend praktisch wäre doch so ein TV Gewalt-Blocker: Statt der nervenden Diskussion darüber, ob Schlagetot-Serien von Art der "Power Rangers" geschaut werden dürfen, könnte sich Mutter oder Vater ganz einfach auf den Chip im Kasten ausreden, und müßte sich nicht dem ausdauernden Betteln und Quengeln der Kinder aussetzen.

Auch bliebe es einem erspart, sich dem inneren Vorwurf zu autoritärer Erziehung auszusetzen, nur deswegen, weil man gelegentlich nach langem Hin und Her den Mut zu einem klaren Nein aufbringt. Und nie wieder könnten uns unsere Kinder mit Protest und Tränen dem Gruppendruck ganzer Wohnviertel aussetzen ("Alle anderen dürfen's aber sehen!") ...

Ist den Familien mit elektronischen Eingriffen von außen tatsächlich gedient? Ist es gut, Umgang und Kontrolle der Medien (Fernsehen sowie Computer, vermehrt auch Internet) dem jeweiligen Medium selbst zu überlassen - Medienerziehung künftig also durch elektronische Selbststeuerung nach dem Motto: Der richtige Chip im Gerät und das elterliche Gewissen ist beruhigt und damit lästiges Fragen der Kinder überflüssig? Brauchen wir den V-Chip als eine, mittels Fernbedienung aktivierbare moralische TV-Instanz, einen fernen "big brother", der weiß, wann genug ist?

Vielleicht kann der elektronische TV-Helfer in Einzelfällen nützlich sein, wenn Kinder ständig allein dem Medium ausgesetzt sind. Es besteht allerdings die Gefahr, daß er dazu dient, die wichtigen Themen "Medienkonsum" und "mediale Gewalt" aus den Familien an ferne Entscheidungsträger zu delegieren. Die Auslagerung der Konflikte und Entscheidungen darüber, was Kinder ansehen und was nicht, macht die Familie wiederum ein Stück ärmer und bedeutungsloser: Kinder brauchen keine, von fernen TV-Anstalten gesteuerten Chips als Partner, sondern Eltern, die sich die Zeit und Gelassenheit nehmen, sich mit ihrem Medienkonsum aktiv auseinanderzusetzen. Was Kinder mehr denn je brauchen sind nicht elektronische TV-Wächter, sondern angreifbare, verfügbare und mitunter auch streitbare "Begrenzer" in der Person von Eltern.

Vielleicht sollten wir deshalb zum Wohle unserer Kinder weniger darauf setzen, besagte V-Chips in Fernsehgeräten zu installieren, als vielmehr darauf, in ihren Köpfen mehr Bereitschaft zu "V" (wie Verzicht) zu fördern. Aber das ist ein bislang elektronisch wohl noch nicht zu lösendes Problem!

Der Autor ist Kinderpsychologe, Psychotherapeut und gerichtlich beeideter Sachverständiger.

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