Ein paar Pillen und das Kind ist wieder brav

19451960198020002020

Hyperaktive Kinder galten früher als faul oder schlecht erzogen. Heute weiß man, daß es sich um eine Störung mit Krankheitswert handelt. Uneins sind sich die Experten allerdings über die Therapie.

19451960198020002020

Hyperaktive Kinder galten früher als faul oder schlecht erzogen. Heute weiß man, daß es sich um eine Störung mit Krankheitswert handelt. Uneins sind sich die Experten allerdings über die Therapie.

Werbung
Werbung
Werbung

Bereits 1844 hat Heinrich Hoffmann, Nervenarzt und Verfasser des "Struwwelpeter", mit den Figuren des Zappel-Philipp und Hans-guck-in-die-Luft die typischen Merkmale dieser Kinder beschrieben. Während man heute von "AD/HD" (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung) spricht, wurden seit den vierziger Jahren verschiedenste Bezeichnungen gebraucht. Man sprach von "minimalen cerebralen Dysfunktion", vom "kindlichen hirnorganischen Psychosyndrom", vom "hyperaktiven Kind" oder dem hyperkinetischen Syndrom" (HKS). Weltweit sind drei bis sechs Prozent der Kinder, nach amerikanischen Untersuchungen aber wesentlich mehr, davon betroffen; 80 Prozent sind Buben.

Es handelt sich dabei um Kinder, n die weit mehr als andere unaufmerksam und verträumt sind, sich leicht ablenken lassen, impulsiv handeln und scheinbar nicht daraus lernen, n die in ihrer motorischen, sensorischen und emotionalen Entwicklung häufig Verzögerungen und oft nicht erklärbare Lernstörungen haben, n bei denen bewährte pädagogische oder therapeutische Hilfen nicht zu greifen scheinen und mit denen das Leben aufreibend und anstrengend ist, n die uns aber andrerseits auch bereichern mit ihrer Sensibilität, Kreativität und ihrer bisweilen charmant-liebenswürdigen Art.

Sah man diese Kinder früher als faul, böse und schlecht erzogen an, so stehen wir heute vor einem grundlegenden Paradigmenwandel: Der Zappel-Philipp gilt nicht mehr als der aktive Bösewicht, Experten gehen vielmehr davon aus, daß die meisten dieser als "verhaltensgestört" bezeichneten Kinder eine Entwicklungsstörung der Selbstkontrollprozesse und des Sozialverhaltens haben. Sowohl neurobiologische Ursachen als auch Umwelteinflüsse bedingen Erscheinungsbild, Ausprägung und Prognose wesentlich mit.

"... was für ein Leben mit dem Zappel-Philipp...!?" "AD/HS '99" - Unter diesem Titel fand kürzlich in Salzburg vor 800 Teilnehmern aus Medizin, Psychologie und Heilpädagogik ein Kongreß über Hyperaktivitätsstörungen statt. Tenor der dort vertretenen Experten: Hyperaktivität ist eine Störung mit Krankheitswert, möglicherweise entwickeln sich bestimmte Regelsysteme für die Aufmerksamkeits- und Impulssteuerung im Gehirn nicht richtig und vermutlich ist dies genetisch bedingt. Insbesondere Referenten aus dem angloamerikanischen Raum, wie der Amerikaner Thomas Brown von der Yale Medical School, vertraten die These, AD/HD sei Resultat einer endogenen Störung. Bei 80 Prozent der Kinder sei die Störung vererbt. Als charakteristisches Verhaltensmerkmal dieser Kinder sieht Brown ihre Dysregulation; sie haben nur zwei Geschwindigkeiten: "full or asleep".

Fehlerhafte Gene Minimale frühkindliche Gehirnschäden aufgrund einer Sauerstoffunterversorgung des Neugeborenen während der Geburt oder in der frühen Kindheit sowie überhöhter Zigaretten-, Alkohol- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft gelten als Ursachen für Hyperaktivität für überholt. Während bis vor kurzem Faktoren wie Ernährung oder ungünstiges soziales Umfeld in der Fachliteratur noch häufig diskutiert wurden, traten sozialwissenschaftliche Erklärungen für AD/HD in Salzburg deutlich in den Hintergrund. Die Mehrzahl der Wissenschaftler brachte gehirnphysiologische Erklärungen vor. Die neue Formel lautet: Ursache für Hyperaktivität sind fehlerhafte Gene und ein gestörter Umgang des Gehirns mit dem Neurotransmitter Dopamin. Abweichungen im Gehirn sind Ursache für die mangelhafte Hemmung der ungebremsten kindlichen Verhaltensimpulse und schuld an der zu schwachen Selbstkontrolle des Kindes.

Die Diagnose der Hyperaktivität orientiert sich am Klassifikationsschema der Weltgesundheitsorganisation (ICD) und basiert auf einer Liste von kindlichen Verhaltensauffälligkeiten aus den Bereichen: Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität. Da aber ungebremste kindliche Impulsivität, geringe Ausdauer und überschießende Energien nicht immer Ausdruck von AD/HD sind, ist es Aufgabe der klinischen Diagnostik zu unterscheiden zwischen den ureigenen Charakteristika kindlichen Wesens und tatsächlichen Fehlentwicklungen. Als bedenklich wird die kindliche Symptomatik dann eingestuft, wenn sie schon vor dem siebenten Lebensjahr eingesetzt hat, in mehr als einer Situation auftritt und deutliches Leiden verursacht oder die Funktionsfähigkeit beeinträchtigt. Am Kongreß wurde eine breite Palette von diagnostischen Instrumentarien präsentiert. Was sich hinter überbordender Diagnostik und neuer, vorwiegend englischer Fachterminologie verbirgt, ist allerdings oft nur altbekanntes kinderpsychiatrisches Schubladendenken in Neuauflage. Hohen Stellenwert räumt der bekannte österreichische Kinderpsychiater Max Friedrich in seinem Kongreßbeitrag der Diagnostik dann ein, wenn es um die klinische Abklärung einer medikamentösen Indikation geht.

Uneins waren die Experten in Salzburg erwartungsgemäß in Fragen der Therapie. Diätetische Therapien, Mototherapie, pädagogische und psychotherapeutische Therapieprogramme, technische Geräte zur Wahrnehmungsförderung, Selbsthilfegruppen u. a. stehen medizinischen Behandlungsformen gegenüber. Einigkeit herrschte darüber, daß es für das hyperkinetische Syndrom keine wirkliche Heilung gibt.

Griff zu Medikamenten Deutlich wurde aber, daß der Stellenwert medizinisch orientierter Therapien mittels Psychopharmaka enorm zunimmt. Dabei erweisen sich die Experten aus den USA als Protagonisten. Für Thomas Brown etwa liefern weltweit durchgeführte Studien eindeutige Beweise für die Wirksamkeit und Sicherheit der eingesetzten Medikamente. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um die Verabreichung von Psycho-Stimulantien wie das Medikament "Ritalin", mit dem Kinder ihre Impulse zügeln und ihr Verhalten besser steuern können. Dabei sei die Gefahr von Nebenwirkungen gering, und Fälle von Abhängigkeit oder gar Sucht wären aus keiner der Studien bekannt. Mit dem Hinweis, daß der Amphetamin-Konsum in den USA bei Kindern in den letzten fünf Jahren gleich um 400 Prozent gestiegen ist, warnte Max Friedrich - im Gegensatz zu den amerikanischen Experten - am Salzburger Kongreß vor einem leichtfertigen Einsatz der Amphetamine (siehe Kommentar).

Signale der Eltern In den Fachdiskussionen wurden nicht nur medikamentöse Therapieformen kritisch bewertet, sondern auch einseitig ansetzende technische Materialien und Geräte, wie der in einem Workshop vorgestellte "Brain-boy": Ein simples elektronisches Gerät (Kosten: 1.000 Schilling), mit dem das Kind - so die Herstellerfirma MediTECH Austria - durch Verknüpfen von optischen mit akustischen Signalen seine "zentrale Fehlhörigkeit" als Ursache seiner Hyperaktivität behandeln kann.

Faßt man die Expertenmeinungen zusammen, so erweist sich "multimodaler" Therapieansatz am effektivsten. Betroffenen Kindern ist mit einer Kombination verschiedener Methoden am besten geholfen. Vor allem brauchen sie neben einer allfälligen Behandlung mit Psychopharmaka zur Verbesserung ihrer Selbstkontrolle eine stärker strukturierte und straffer organisierte Umgebung mit klaren Regeln. Die deutsche Kinderpsychologin C. Neuhaus skizzierte in ihrem praxisorientierten Kongreßbeitrag worauf es ankommt: "ADHD-Kinder haben eine andere Art, auf die Welt zu reagieren und sie zu verstehen." Der Zappel-Philipp braucht nicht die große medikamentöse oder psychologische Therapie. Was er aber sehr wohl braucht, ist ressourcenorientiertes erzieherisches Vorgehen mit grundlegendem Verstehen seiner Symptomatik. Eltern und Lehrer sollten in die Behandlung einbezogen und darin geschult werden, mit den Verhaltensauffälligkeiten gezielter und geschickter umzugehen. Dabei ist wichtig, für zuverlässige Ordnungsmuster und Regeln zu sorgen, für deutlich strukturierte Tagesabläufe, für sichere Signale und Rituale. Ein höheres Maß an liebevoller Klarheit und Konsequenz hilft diesen Kindern - trotz ihres Handicaps - in der Hektik des modernen Kinderalltags zu bestehen.

Der Autor ist Kinderpsychologe und Psychotherapeut in Innsbruck.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung