Turbulenzen in Körper und Seele

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Die Klagen über zappelige Kinder nehmen zu. Doch wieviele haben ADHS? Und was bedeutet das überhaupt? Über ein ewig umstrittenes Syndrom.

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Die Klagen über zappelige Kinder nehmen zu. Doch wieviele haben ADHS? Und was bedeutet das überhaupt? Über ein ewig umstrittenes Syndrom.

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Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit." An diesem Satz kommt im Vorraum des "Therapiecafés" in der Wiener Ullmannstraße keiner vorbei. Dick und fett prangt er in der Kochnische, dort, wo sich die Eltern Kaffee und Kuchen holen können, während sie auf ihre Sprösslinge warten. Im Zimmer nebenan sollen ein Mädchen und drei Buben zwischen zehn und zwölf Jahren derweil das trainieren, was im Leben oft entscheidend ist: sich auf eine Sache konzentrieren können, ruhig sitzen bleiben und nicht bei jedem Ärger hochgehen wie eine Rakete.

Mit all dem haben die vier Halbwüchsigen erhebliche Probleme. Der Name ihres Leidens: "Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung" - kurz ADHS. Um ihr Gedächtnis zu verbessern, steht heute eine spielerische Übung auf dem Programm. "Ich mache eine Reise und packe Sand, Essen und Kleidung in den Koffer", sagt einer der Burschen. Nun wäre Martin an der Reihe, doch der schlaksige Viertklässler, der in Wirklichkeit anders heißt, biegt seinen Oberkörper seitlich nach unten, bis sein Kopf fast den Boden berührt. Für Michaela Auer, systemische Therapeutin und gemeinsam mit Katharina Fuchs Leiterin der ADHS-Gruppe, nichts Überraschendes: "Ich mache eine Reise und packe Sand, Essen, Kleidung und einen Martin in den Koffer, der hoffentlich bald wieder auf seinem Popsch sitzt", sagt sie in die aufgekratzte Runde.

"Mit dem Thema Freunde abgeschlossen"

Seit vier Jahren schon kommt Martin jeden Montag ins Therapiecafé. "Bei ihm fällt vor allem die Hyperaktivität extrem auf, aber mit seiner kognitiven Intelligenz kann er viel kompensieren", erzählt Michaela Auer nach Ende der Sitzung. Dass der Zehnjährige sozial voll integriert ist, sei eine Ausnahme. Die meisten betroffenen Kinder würden ausgegrenzt. "Einmal hat mir ein Achtjähriger gesagt: Mit dem Thema Freunde habe ich abgeschlossen", erzählt Auer.

Trotzdem war bei Martin und seiner Familie der Leidensdruck groß: "Er war sehr impulsiv und konnte sich bei Hausübungen kaum konzentrieren", berichtet sein Vater, der selbst Mediziner ist. "Außerdem konnte man kaum zu ihm durchdringen." Dazu kam noch eine ausgeprägte Legasthenie. Zwei Jahre später zeigte sich, dass die Verhaltenstherapie allein nicht ausreichte. Nach einer sorgfältigen Diagnose auf Basis von Intelligenz-, Aufmerksamkeits- und Persönlichkeitstests sowie Fragebögen für Eltern und Schule bekam Martin das Psychopharmakum "Ritalin" verschrieben. "Seither geht es viel besser", berichtet Martins Vater. Nebenwirkungen oder Charakterveränderungen seien ausgeblieben. Auch Michaela Auer steht zur Medikation: "Ich bin normalerweise sehr vorsichtig, aber wenn die Diagnose gesichert ist und der Leidensdruck groß ist, kann das hilfreich sein." ADHS sei eben nicht nur eine neurobiologische Entwicklungsstörung, sie sei auch eine "Schulanpassungsbehinderung" - zumal in unserer Leistungsgesellschaft, die kaum Knautschzonen für etwas andere Kinder biete.

Ist ADHS also doch nur ein "Lebensstilsymptom" unserer hektischen Zeit, wie der dänische Familientherapeut Jesper Juul meint - oder gar nur eine Erfindung der Pharmaindustrie? Nein, ist Auer überzeugt: "Dieses Störungsbild ist lange bekannt. Nur wird es heute häufiger diagnostiziert, weil man mehr darüber weiß und sensibler ist."

Tatsächlich hat ADHS eine lange Geschichte. Bereits 1845 zeichnete der Arzt Heinrich Hoffmann in seinem "Struwwelpeter" den "Zappelphilipp" als typischen ADHS-Patienten. 1902 folgte der englische Pädiater Sir George Frederic Still, der erstmals Kinder mit dieser Problematik beschrieb. 1954 kam schließlich die Substanz Methylphenidat auf den Markt, die von Leonardo Panizzon entwickelt worden war. Als Patin für den Handelsnamen "Ritalin" fungierte seine Frau Rita, die festgestellt hatte, dass ihr Tennisspiel plötzlich konzentrierter wurde. Es folgte eine globale Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält: Wie der UNO-Suchtstoffkontrollrat (INCB) Anfang März feststellte, wurde 2013 mit einem weltweiten Methylphenidat-Verbrauch von 71,8 Tonnen ein neuer Spitzenwert erreicht. 80 Prozent davon entfallen allein auf die USA, wo elf Prozent der Minderjährigen mit ADHS diagnostiziert sind. Auch in Deutschland sind die Diagnosen von 2006 bis 2011 um 42 Prozent gestiegen..

In Österreich ist die Verschreibungspraxis vorsichtiger, doch auch hier steigt der Absatz von Psychopharmaka (siehe rechts). Wie häufig ADHS auftritt, ist unklar. In den 1990er-Jahren ging man noch von bis zu 14 Prozent der Kinderbevölkerung aus, neuere Studien sprechen von 0,5 bis 1,5 Prozent - bei einer Geschlechtsverteilung von 10:1 zulasten der Buben. Immerhin 70 Prozent der Betroffenen haben noch eine weitere Störung, etwa zwei Drittel leiden auch als Erwachsene noch unter ADHS.

Noch unklarer als die Häufigkeit ist die Entstehung dieses Syndroms. Ausgangspunkt ist eine genetische Störung der Reizverarbeitung im Gehirn, der ein Dopaminmangel zugrunde liegt und die betroffene Kinder filterlos allen Sinnesreizen ausliefert. Viele ADHS-Kinder waren deshalb Schreibabys, die durch Körperkontakt nicht zu beruhigen waren. Dazu kommen weitere, psychosoziale Risikofaktoren wie inkonsequentes Erziehungsverhalten oder Alleinerzieherschaft. Entsprechend vehement fordern Kinderpsychiater eine umfassende Therapie unter Einbeziehung der Eltern.

Andere plädieren für einen noch tieferen Blick auf die seelischen Nöte der Kinder: So etwa der 2011 verstorbene Pädagoge Wolfgang Bergmann, der im Buch "AD(H)S in der Schule" den Fokus auf Bindungsstörungen als (Teil-)Ursachen von ADHS gelegt hat. Auch Bernd Traxl, aus Innsbruck stammender und an der Johannes Gutenberg Universität Mainz lehrender Psychoanalytiker und Sonderpädagoge, warnt davor, ADHS als rein neurologischen Defekt zu sehen, der mit Medikamenten und Verhaltenstherapie "repariert" werden könne: "Ein Kind kann auch deshalb unruhig sein, weil es merkt, dass es in seiner Bezugsperson nicht repräsentiert ist -und um darin präsent zu bleiben, drängt es sich mit seinem Verhalten in die Psyche des anderen." Es brauche einen psychodynamischen Ansatz. Doch derzeit orte er "ein Defizit an Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Kinder und Ursachen von ADHS -sowie eine Hyperaktivität in der Verschreibungspraxis von Methylphenidat".

Wie eng ADHS und Bindungsstörungen zusammenhängen, hat indes der Kinderund Jugendpsychotherapeut Rüdiger Kißgen von der deutschen Universität Siegen belegen können. Im Rahmen einer umfassenden Untersuchung von 105 Kindern (etwa die Hälfte davon mit ADHS-Diagnose) hat sich gezeigt, dass jene mit ADHS signifikant häufiger eine nicht-sichere oder desorganisierte Bindung zu ihrer Bezugsperson hatten -und dass ihre Mütter zudem oft auf Grund eigener schlechter Bindungserfahrung nur eingeschränkte Voraussetzungen für einen feinfühligen Umgang mit kindlichen Signalen mitbrachten. Ob die schlechte Bindungsqualität jedoch ADHS kausal auslöst, kann die Studie nicht zeigen. Schon gar nicht dürfe man Eltern einfach die Schuld zuweisen, betont Kißgen. "Klar ist aber, dass es nicht ausreicht, bei ADHS einfach nur Medikamente zu verabreichen. Man muss die ganze Familie ins Boot holen."

Diesen Schritt hat man auch im "Therapiecafé" getan. Martins Vater hat in Elternberatungsstunden gelernt, Anweisungen "kurz, knapp und knallig" zu geben und seinen Sohn häufig zu loben (siehe Kasten). Auch in der Schule wurde Martins Diagnose klar kommuniziert. Dass sein Sohn stigmatisiert sein könnte, ist die größte Sorge des Vaters. Dass Psychoanalytiker Bindungsstörungen als ADHS-Mitursache sehen, ist ihm aber egal. "Mein Gott", sagt er, "es muss offenbar immer einen Schuldigen geben."

AD(H)S in der Schule

Wie Eltern ihren Kindern helfen können. Von Wolfgang Bergmann. Beltz 2010, kart., € 13,40. Ratgeber mit psychodynamischem Ansatz

Das große ADHS-Handbuch für Eltern

Von Russell A. Barkley. 3., akt. Auflage. Huber 2011, 455 S., brosch., € 30,80 Klassiker, der ADHS v.a. als genetisch bedingte und medikamentös gut behandelbare Störung begreift.

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