"Hier wird viel zu schnell pathologisiert“

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Die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Marianne Springer-Kremser über die "Volkskrankheit“ Depression und eine Gesellschaft zwischen Pharmawahn und Trauerverbot.

Laut offiziellen Stellen leiden mehr Menschen denn je an Depressionen: Rund zehn Prozent seien in Österreich betroffen, hieß es am 10. Oktober, dem Welttag der seelischen Gesundheit; fünf Prozent seien behandlungsbedürftig. Ist Depression tatsächlich die neue "Volkskrankheit“? Marianne Springer-Kremser, ehemalige Leiterin der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie in Wien sowie Gründerin der "Psychosomatischen Frauenambulanz“ an der Universitätsfrauenklinik, übt in ihrem jüngsten Buch "Die Depressionsfalle“ (mit Alfred Springer) heftige Kritik an der gängigen Diagnose- und Behandlungspraxis. Was falsch läuft, hat die 73-Jährige der FURCHE im Interview erklärt.

Die Furche: Frau Professor Springer-Kremser, laut WHO liegt die Depression derzeit an dritter Stelle der häufigsten Erkrankungen. Im Jahr 2030 soll sie bereits die meist-diagnostizierte Krankheit sein …

Marianne Springer-Kremser: Ja, mit Betonung auf "meistdiagnostizierte“! Erst kürzlich hat die WHO drei Fragen empfohlen, anhand derer man Depression diagnostizieren könne. Doch das ist falsch, absurd und böse! Denn eine solche Diagnose bedarf eines diagnostischen Interviews von mindestens 50 Minuten. Ein Fragebogen allein ist absolut unzulässig.

Die Furche: Wie sorgfältig wird derzeit in Österreich diagnostiziert?

Springer-Kremser: Es gibt hier eine unglaubliche Leichtfertigkeit und Schlamperei, gegen die man seitens der Ärztekammer Schritte unternehmen sollte. Als Leiterin der psychosomatischen Frauenambulanz habe ich etwa Patientinnen erlebt, die mit der Diagnose "Depression“ zu uns geschickt wurden, weil es um Zustände nach einer Geburt ging, die nicht so gelaufen ist, wie sie sich das gewünscht haben - was oft vorkommt. Das häufigste "Missverständnis“ ist, dass Menschen heute die Trauer über einen Verlust verboten wird. Und verlieren kann man Unterschiedlichstes: nahestehende Personen, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder auch das eigene Körperbild. Im neuen Diagnoseschema DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Anm.) wollte man sogar festschreiben, dass jemand eine Depression hat, wenn er drei Monate nach dem Tod einer sehr nahestehenden Person noch immer traurig ist. Nach heftiger Kritik ist das gottseidank rausgenommen worden. Früher hat man halt ein Jahr lang schwarz getragen - wobei ich nicht der Meinung bin, dass das so toll war, aber es hat signalisiert: Das ist eine verletzliche Person! Heute wird viel zu schnell pathologisiert!

Die Furche: Offenbar auch bei Kindern: Bislang mussten für die Diagnose "ADHS“ (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom), bei der gern das Antidepressivum "Ritalin“ verschrieben wird, die Symptome schon vor dem siebten Lebensjahr auftreten. Das neue Diagnoseschema weitet diesen Zeitraum bis zum zwölften Lebensjahr aus - inklusive Schulzeit, die auch "ganz normale“ Kinder stresst …

Springer-Kremser: Das ist richtig. Eine Gruppe um Marianne Leuzinger-Bohleber aus Frankfurt konnte zudem nachweisen, dass überwiegend bei Migrantenkindern "ADHS“ diagnostiziert und Ritalin verschrieben wird - vielleicht weil sie, aufgewachsen in beengten Wohnverhältnissen, nicht so pflegeleicht sind; oder weil aus der Schule Klagen kommen. Das zeigt, dass man sich nicht um sorgfältige Diagnostik bemüht.

Die Furche: Kommen wir nochmals zu den Frauen, bei denen doppelt so häufig eine Depression diagnostiziert wird wie bei Männern. Wie kommt das?

Springer-Kremser: Es gibt hier ein Wechselspiel verschiedenster Faktoren. Erstens neigen Frauen zu mehr Klagsamkeit. Bei Männern ist das eher tabuisiert, sie decken depressive Verstimmungen öfter mit Alkohol zu oder entwickeln eine "maskierte Depression“ in Form von Körperbeschwerden wie etwa sexuellen Funktionsstörungen. Das wird viel zu wenig beachtet. Seitens der Frauen kommen noch die vielen Verluste dazu, die dem weiblichen Lebenszyklus immanent sind. Das beginnt schon bei den Veränderungen des Körperschemas in der Adoleszenz, die bei Mädchen ungleich gravierender sind als bei Burschen. Auch Fehlgeburten, der Verlust des eigenen Körperbildes während der Schwangerschaft oder nach der Geburt und das Ende der Fruchtbarkeit gehören dazu.

Die Furche: Manche Psychiater sehen eher in der Doppelbelastung den Grund - auch dafür, dass bei Frauen der Anteil der Invaliditätspensionen wegen psychischer Krankheit fast 50 Prozent beträgt (darunter meist Depressionen), bei Männern nur 29 Prozent …

Springer-Kremser: Damit macht man es sich zu einfach und stigmatisiert zudem jene Frauen, die gerne berufstätig sind. Frauen sind nicht krank, sondern primär überanstrengt. Wir alle wissen, wie wenige Männer in Karenz gehen.

Die Furche: Und das vielzitierte "Burnout“ bei Müttern?

Springer-Kremser: Auch hier kommt es zu einer Pathologisierung. Ich sage nicht, dass man alles aushalten muss, um Gottes willen. Aber wenn man sich für ein bestimmtes Leben entschieden hat, dann muss man auch akzeptieren, dass diese Entscheidung mit bestimmten Konsequenzen behaftet ist und dass es eine bestimmte Zeitspanne gibt, in der man für sich selber wenig Zeit hat. Diese Bewusstheit braucht es - aber auch Rahmenbedingungen, damit diese Vereinbarkeit so gut wie möglich gelingen kann.

Die Furche: Im Alter gleicht sich das Depressionsrisiko von Frauen und Männern an - und ist denkbar hoch: Jeder fünfte Mensch über 75 ist betroffen. Alarmiert Sie das?

Springer-Kremser: Für mich ist eher schwer vorstellbar, dass man alt werden kann, ohne ein bisschen depressiv zu werden: Die Häufung an Verlusten - des sozialen Umfelds, des Körperbildes, der Funktionsfähigkeit im Alltag - nur mit Trauer allein bewältigen zu können, übersteigt oft die subjektiven Ressourcen. Zu einer wirklich schweren Depression kommt es aber in der Regel nur dann, wenn es gravierende Verluste oder Katastrophen in der Kindheit gab. Es gibt zwar Personen, die solche Situationen erleben und nicht depressiv werden - aber der Umkehrschluss ist unzulässig.

Die Furche: Depression als rein neurobiologische Angelegenheit, gegen die Psychopharmaka gut und einfach helfen, ist für Sie also denkunmöglich?

Springer-Kremser: Die Psychoanalyse hat von Anfang an akzeptiert, dass jeder psychische Leidenszustand immer eine Interaktion aus psychischer Struktur, sozialem Umfeld und physiologischen Gegebenheiten ist. Es kann also durchaus hilfreich sein, Psychopharmaka zu verschreiben - wenn man dem Patienten gleichzeitig klar macht, dass das Medikament ihm nicht die wirklichen Sorgen abnehmen, sondern höchstens eine innere Barriere aufbauen kann, die ihn davor schützt, diese Sorgen als so extrem quälend zu erleben. Doch derzeit scheint man eher eine Durchseuchung der Bevölkerung mit Psychopharmaka zu wollen. Der Hauptverband (der Sozialversicherungsträger, Anm.) gibt dafür Unsummen aus - und viel zu wenig für Psychotherapie.

Die Furche: Sie fordern hingegen eine Rückkehr zum "psychodynamischen Denken“ und mehr "Empowerment“. Was meinen Sie damit?

Springer-Kremser: Es geht darum, Menschen, die in eine depressive Verstimmung geraten, nicht automatisch für krank zu erklären, sondern ihnen zu helfen, die aktuellen Lebensumstände und die Bedeutung traumatischer Erfahrungen zu erarbeiten. Und die Ärzte müssten den Aktivitäten der Pharmaindustrie mit der gebotenen Skepsis begegnen und sich wieder mehr der Bedeutung der Diagnostik bewusst werden. Denn zwischen "Normalität“ einerseits und "schwerer Psychopathologie“ andererseits gibt es eine große Bandbreite - und ein Kontinuum: Niemand ist Zeit seines Lebens nur normal und niemand nur psychotisch. Wenn aber die Pathologie zur Normalität wird, werden die wirklich schweren Fälle verharmlost und übersehen. Darin sehe ich die größte Gefahr.

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