"Setzen Ritalin immer sehr vorsichtig ein"

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In Österreich steigen die Verordnungszahlen von Psychopharmaka bei ADHS stetig an. Greifen Ärzte vorschnell zum Rezeptblock? Ein Gespräch mit dem Wiener Kinder-und Jugendpsychiater Christian Kienbacher.

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In Österreich steigen die Verordnungszahlen von Psychopharmaka bei ADHS stetig an. Greifen Ärzte vorschnell zum Rezeptblock? Ein Gespräch mit dem Wiener Kinder-und Jugendpsychiater Christian Kienbacher.

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Weltweit werden immer mehr Kinder mit Methylphenidat behandelt. Der Wirkstoff, der eigentlich ein Suchtgift ist, hemmt die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Dopamin, verbessert dadurch die Konzentrationsfähigkeit und vermindert Hyperaktivität und Impulsivität. Die Wirkung der Pille (in vielen Ländern unter dem Namen "Ritalin" erhältlich) setzt bereits nach zehn Minuten ein und hält bis zu acht Stunden an. Laut Hauptverband der Sozialversicherungsträger ist die Zahl der Verordnungen zwischen 2008 und 2013 von 70.700 auf 98.900 gestiegen. Erhalten unsere Kinder zu leichtfertig Psychopharmaka? DIE FURCHE hat Christian Kienbacher, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie, gefragt.

DIE FURCHE: Herr Kienbacher, schon 2012 hat sich die UN-Kommission für Kinderrechte bezüglich der "Über-Verschreibung" von Methylphenidat in Österreich besorgt gezeigt. Mit Recht?

Christian Kienbacher: Ich glaube nicht. Wir haben Psychopharmaka immer sehr vorsichtig eingesetzt und sind von einem sehr niedrigen auf ein niedriges Niveau gestiegen. Das zeigt der europäische Ländervergleich: In Deutschland werden jährlich 1279 Packungen Methylphenidat pro tausend Einwohner abgesetzt, in der Schweiz sind es sogar 2191, bei uns nur 324. Da liegen Welten dazwischen!

DIE FURCHE: Sie sprechen sich vor einer Medikamentengabe für eine "multimodale" Behandlung aus: also etwa Psychotherapie, Psychoedukation, Ergotherapie, Logopädie und so weiter. Gibt es dafür genügend Ressourcen?

Kienbacher: Nein, die Versorgungssituation ist in Österreich nicht gut: Es fehlen Kassenplätze für Psychotherapie und Ergotherapie - aber auch erlebnispädagogische Gruppen, wo Kinder etwa durch Klettern ihre Ausdauer und Konzentration stärken können. Wenn für Familien aber keine dieser Therapien möglich und leistbar ist, kann ich mir schon vorstellen, dass man aus der Verzweiflung heraus froh ist, wenn zumindest eine medikamentöse Therapie von den Krankenkassen übernommen wird.

DIE FURCHE: In Österreich dürfen Kinderärzte den Wirkstoff Methylphenidat erstverordnen, weiterverordnen dürfen auch Allgemeinmediziner. Sollte das nicht generell in die Zuständigkeit von Kinder- und Jugendpsychiatern fallen?

Kienbacher: Prinzipiell ja, aber dazu bräuchte es in allen Bundesländern ausreichend viele Kinderund Jugendpsychiater in Ordinationen und Ambulatorien, und es gibt jetzt schon zu wenige.

DIE FURCHE: Viele zweifeln die Qualität der ADHS-Diagnosen an ...

Kienbacher: Klar ist, dass nur dann ADHS vorliegt, wenn die Symptome in einem schweren Ausmaß, in vielen Lebensbereichen, länger als sechs Monate und schon vor dem sechsten Lebensjahr auftreten. Hier braucht es eine saubere Diagnostik.

DIE FURCHE: Im neuen US-Handbuch für psychische Störungen (DSM-5) wurde diese Altersgrenze auf zwölf Jahre angehoben. Ein Kniefall vor der Pharmalobby?

Kienbacher: Zu den Beweggründen kann ich nichts sagen. Faktum ist, dass wir uns in Österreich am strengeren Klassifikationsschema "ICD-10" der WHO orientieren.

DIE FURCHE: Pädagogen und Psychoanalytiker kritisieren, dass zu wenig auf etwaige Bindungsstörungen geachtet wird. Was sagen Sie als Psychiater mit analytischer Ausbildung dazu?

Kienbacher: Das Problem ist, dass derzeit so viel unter ADHS subsumiert wird. Natürlich gibt es Bindungsstörungen, die sich auf der Symptomebene ähnlich abbilden wie ADHS. Als Kinderpsychiater muss man sich das differentialdiagnostisch genau anschauen. Aber zugleich frage ich mich, welche Diagnose akzeptieren Eltern leichter - "Ihr Kind hat eine Bindungsstörung" oder "Ihr Kind hat ADHS"? Letzteres ist von Eltern besser akzeptierbar, Ersteres bedeutet für viele eine Stigmatisierung.

DIE FURCHE: Zuletzt hat es Aufregung darüber gegeben, dass 2012 in Österreich laut Hauptverband 2214 Kinder zwischen null und vier Jahren Antidepressiva erhalten haben sollen. Sie haben gegenüber orf.at gemeint, es handle sich hier um "Buchungsfehler oder erschlichene Versicherungsleistungen". Wie ist das zu verstehen?

Kienbacher: Ich glaube tatsächlich, dass die Zahlen nicht sehr valide sind. Wenn es bei Methylphenidat rund 70 Verordnungen pro Jahr für Untervierjährige gibt, halte ich es für ausgeschlossen, dass so viele Zwei- oder Dreijährige Antidepressiva erhalten. Das Problem liegt darin, dass Methylphenidat als Suchtgiftrezept genauestens dokumentiert wird. Bei den Millionen Verschreibungen an Antidepressiva gibt es aber sehr viele Wahlarztrezepte ohne Barcode, wo diese Form der lückenlosen Dokumentation nicht existiert und es zu Buchungsfehlern kommen kann. Dann scheinen Kinder in der Statistik auf, obwohl Erwachsene das Medikament erhalten haben.

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