Die Psyche des Terrors

19451960198020002020

Es war nicht die Religion, die eine Gruppe junger Männer in die Arme des IS geführt hat. Heiße Spuren zeigten sich vielmehr bei den psychosozialen Lebensumständen.

19451960198020002020

Es war nicht die Religion, die eine Gruppe junger Männer in die Arme des IS geführt hat. Heiße Spuren zeigten sich vielmehr bei den psychosozialen Lebensumständen.

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist nur eine kleine Stichprobe - aber sie öffnet doch ein Fenster in die Welt jener Jugendlichen, die bereit sind, Terrorgruppen wie dem Islamischen Staat (IS) in die Arme zu laufen. Denn es sind ein paar auffällige Gemeinsamkeiten, die sechs Jugendliche aus ganz unterschiedlichen Milieus und Herkunftsländern miteinander verbindet. Gabriele Wörgötter hat diese Jugendlichen im Auftrag von österreichischen Gerichten untersucht: Die Wiener Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie ist gerichtlich beeidete und zertifizierte Sachverständige. Dass sich unter den zu begutachtenden Personen nun auch junge Menschen finden, die nach dem Terrorparagraph angezeigt wurden, ist ein relativ neues Phänomen. "Wir erhalten dadurch zunehmend Einblicke in die Entstehungsgeschichte der gewaltbereiten Radikalisierung", berichtete die Psychiaterin letzte Woche bei einer Pressekonferenz in Wien. "Dieses Material sollte dazu beitragen, mehr Hellhörigkeit zu schaffen, um eine solche Radikalisierung im Vorfeld erkennen und verhindern zu können."

Was hat die besagte Gruppe - allesamt junge Männer - dazu verleitet, dem Angebot einer islamistischen Terrorgruppe zu folgen? Die Religion war es offensichtlich nicht, berichtet Wörgötter: Alle sind nicht in streng muslimischen Familien aufgewachsen, waren vor ihrer Radikalisierung nicht besonders gläubig und haben kein religiös orientiertes Leben geführt. Und keiner von ihnen hatte eine spezifische Kenntnis des Koran. "Da war selbst mein bescheidenes Wissen wesentlich umfangreicher", bemerkte die Fachärztin.

Anfälligkeit für Risikoverhalten

Aufschlussreiche Spuren finden sich vielmehr anhand der psychosozialen Lebensumstände: Alle Jugendlichen hatten eine frühe Bindungsstörung und wuchsen ohne Vater auf, der die Familie entweder verlassen hatte oder nicht wirklich anwesend war. In dem Jahr vor dem Anschluss an den IS waren sie isoliert und von der "Peer Group", der Gruppe der Gleichaltrigen, weitgehend ausgegrenzt. Und alle litten unter dem Gefühl der Heimatlosigkeit - darunter auch jene, die bereits in Österreich geboren und aufgewachsen sind.

"Heimat" erweist sich hier tatsächlich als existenzieller Begriff, der weit über die aktuellen politischen Inanspruchnahmen hinausweist. Denn Szenarien mit einer zerbrochenen Familiensituation ("Broken Home") können einigen Sprengstoff für den späteren Lebensweg in sich bergen. Je früher es hier zum Verlust an liebevoller, empathischer, fürsorglicher Zuwendung kommt, desto schlimmer: Denn wenn es nicht möglich ist, in den frühen Stadien der kindlichen Entwicklung ausreichend positive emotionale Erfahrungen zu machen, können neurobiologische Schemata im Gehirn nicht adäquat ausgebildet werden.

Vor allem aber spielt die Neustrukturierung des Gehirns während der Pubertät eine Rolle bei der Anfälligkeit für radikale Gruppierungen: Sie führt dazu, dass die vernünftige Risikoabschätzung von einer gefühlsbetonten Wahrnehmung überschattet wird und vor allem männliche Jugendliche oft zu impulsiven, irrationalen, riskanten Verhaltensweisen neigen. Und in dieser Lebensphase daher auch leichter auf die wahnwitzigen Ideen radikaler Gruppierungen hereinfallen können als in reiferen Jahren. Eine britische Studie etwa belegte, dass Menschen in ihren Teenager-Jahren die riskantesten Entscheidungen treffen. Gabriele Wörgötter weiß dies mit Geschichten von jungen ausländischen Kämpfern in Syrien zu veranschaulichen: "Wir hörten von Teenagern, die nach Syrien gereist sind, um den IS zu unterstützen. Gleich an der syrischen Grenze wurden sie von den IS-Kämpfern vor die Wahl gestellt, ob sie sich einer Gruppe von Selbstmordattentätern anschließen wollen", erzählte die Psychiaterin. "Von den 250 Jugendlichen mit teils 14-jährigen Burschen haben dies 60 Prozent ad hoc getan."

Bei der Befragung der Jugendlichen, welche Angebote des Radikalismus sie denn besonders angesprochen hätten, kristallisierten sich ebenfalls ein paar Gemeinsamkeiten heraus: Neben dem Nervenkitzel und Abenteuer sind das die Präsentation einfacher Wahrheiten, die Gestaltung klarer Identitäten und markanter Feindbilder sowie Sinngebung, verbunden mit einem starken Gemeinschaftsgefühl und einer machtvollen Rhetorik. All das war der kleinste gemeinsame Nenner der jugendlichen Terror-Faszination, so Worgötter zur untersuchten Stichprobe.

"Eine sehr stark ausgeprägte Sinnsuche ist bei Jugendlichen durchwegs üblich", wusste auch Johannes Wancata zu berichten. Der Professor für Sozialpsychiatrie an der Med-Uni Wien wies darauf hin, dass weder Terrorismus noch Radikalisierung durch psychische Krankheit erklärbar sind - obwohl dies umgangssprachlich oft nahe gelegt wird.

Gruppen der Gewaltbereitschaft

"Unter Terroristen finden sich keinesfalls mehr psychisch Kranke. Im Gegenteil muss man betonen, dass terroristische Gewalttaten nahezu ausschließlich von psychisch Gesunden begangen werden, die aber ein abweichendes Wertegefühl entwickelt haben." Es gäbe keine seelische Krankheit, die es begünstigt, zum Terroristen zu werden. Zumal wären viele psychisch Kranke gar nicht in der Lage, solche Gewalttaten überhaupt umzusetzen.

Ein Befund, der von der Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner ergänzt wurde: Die bekannte Buchautorin beleuchtete den Terror von Rechts und charakterisierte vier Gruppen gewaltbereiter Personen: In einer davon erlangen Ideen eine so überragende Wertigkeit, dass alle Mittel legitim erscheinen, um diese auch durchzusetzen. In einer anderen Gruppe geht die Fähigkeit zur Relativierung verloren, es kommt allmählich zur Wahnentwicklung. "Diese Menschen haben nicht mehr die Fähigkeit, eine Außenperspektive einzunehmen und meinen, alle denken so wie sie", erläuterte Kastner. Hier finden sich einzelgängerische Täter, die wie zum Beispiel Franz Fuchs für hochdramatische Aktionen sorgen können - aber aufgrund ihrer psychischen Situation nicht mehr wirklich in der Lage seien, konzertiert mit anderen zu agieren. Aber es gibt auch die Mitläufer, die sich völlig unreflektiert einem "Leithammel " anschließen und primär aus Gruppenzugehörigkeit handeln, sowie gewaltbereite Menschen, die vor allem auf der Suche nach Nervenkitzel ("Sensation-Seeking") in den Dunstkreis des Terrors geraten. In den letzteren beiden Gruppen spielen Ideen und Ideologien nur eine untergeordnete Rolle. "Es gibt den überraschenden Befund, dass sich Rechtsradikalisierte nicht wesentlich von anderen Radikalisierten unterscheiden", so Kastner. "Eine Zugehörigkeit ergibt sich oft nur zufällig aus den Lebensumständen heraus."

Es sei für Jugendliche auch nicht unüblich, zwischen Islamismus und Rechtsradikalismus hin und her zu schwanken, berichtete Thomas Stompe, Leiter der Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte psychische Störungen am Wiener AKH. Ein wichtiger Beweggrund sei stets auch die jugendliche Neigung zur Selbstheroisierung, die in solchen Gruppierungen radikal ausgelebt werden kann. Sie stellt eine Reaktion auf die reale Ohnmacht dar, die man als Jugendlicher häufig erleben kann.

"Der Terrorismus zählt wie der Guerillakrieg zu den Formen des asymmetrischen Kampfes gegen einen militärisch übermächtigen Gegner", so Stompe. "Der Guerillero will den Raum besetzen, der Terrorist hingegen das Denken." Der ideologische Hintergrund des islamistischen Terrors speist sich aus einem apokalyptischen Religionsverständnis; der Kampf gegen den Westen wird als Endzeitkrieg gegen das Böse aufgefasst.

Rückwirkung auf die Gesellschaft

Dass der Terror letztlich auf die Gesellschaft zurückwirkt, die sich dadurch ebenfalls zu radikalisieren beginnt, war der einhellige Befund bei der Pressekonferenz, die im Vorfeld der Wiener Frühjahrstagung für forensische Psychiatrie zum Thema "Terrorismus und Radikalisierung" (20.5.) stattfand. Wie die exemplarische Durchleuchtung der Lebensgeschichte zeigt, lassen sich Faktoren ausfindig machen, welche die Anfälligkeit für radikale Ideen erhöhen. Sie bieten eine Erklärung dafür, wann und weshalb bei den Betroffenen die Bindungen an die gesellschaftlichen Normen verloren gegangen sind.

Diese Einsichten sollten nun in Überlegungen zur Abwendung der Radikalisierung einfließen, ebenso wie zum Umgang mit Kriegsrückkehrern und potenziellen Anhängern des Dschihadismus. Ebenso sei es gerade jetzt wichtig, einer gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken und gemeinsam nach Lösungen für diese Herausforderungen zu suchen, betonte Wancata: "Angst und Hass zu schüren, verstärkt nur das bei vielen Menschen vorhandene Gefühl der Unsicherheit. Wenn wir unsere Werte wie Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Menschenrechte et cetera in Frage stellen lassen, schwächen wir unsere Gesellschaft - und tun letztlich das, was die Terroristen und ihre Drahtzieher wollen."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung