"Sie haben keinen Tau, was sie erwartet"

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Wie umgehen mit dschihadistischer Radikalisierung? Der muslimische Religionspädadoge Moussa Al-Hassan Diaw hat die österreichweit erste professionelle Anlaufstelle für Betroffene gegründet. Er erzählte der FURCHE von den Hintergründen.

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Wie umgehen mit dschihadistischer Radikalisierung? Der muslimische Religionspädadoge Moussa Al-Hassan Diaw hat die österreichweit erste professionelle Anlaufstelle für Betroffene gegründet. Er erzählte der FURCHE von den Hintergründen.

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Muslime, Jugendarbeiter und Wissenschaftler haben im Herbst den Wiener Verein "Netzwerk Sozialer Zusammenhalt" ins Leben gerufen. Die treibende Kraft dahinter ist Moussa Al-Hassan Diaw, der zu Themen wie der politischen Ideologisierung von Religion sowie zu antimuslimischem Rassismus forscht. Derzeit betreut der Verein rund 50 Betroffene, vorwiegend junge Männer, in allen Bundesländern bis auf das Burgenland und Kärnten. Im FURCHE-Interview erzählt Diaw aus der Praxis.

Die Furche: Wie funktionieren in der Regel die ersten Schritte der Kontaktaufnahme mit radikalisierten Personen? Und wie schnell kann so eine Radikalisierung vor sich gehen?

Moussa Al-hassan Diaw: Einerseits geschieht das durch persönliche Kontakte. Unsere Klienten erzählten uns von Personen in Parks, Kampfsportvereinen, Schulen oder bei Vorträgen, wo sie gezielt angesprochen und begeistert wurden. Andere erzählen uns, dass sie von einer bestimmten Person gezielt zur Seite genommen wurden. Manche haben durch das Internet lose Kontakte gefunden und sind einfach auf dem Landweg Richtung Ausland losgefahren, oder sie haben Tickets in die Türkei oder den Irak gebucht. In einem anderen Fall wollte ein Schleuser eine Gruppe von Menschen ins Ausland fahren, sie wurden aber von den Behörden gestoppt.

Die Furche: Wie ticken und denken Menschen, die es von Österreich ins Kriegsgebiet nach Syrien oder in den Irak zieht? Welche Motive haben sie, welcher Reiz steckt da dahinter?

Diaw: Gemeinsam haben die Betroffenen, dass sie sich nicht als Teil der Gesellschaft empfinden. Sie suchen eine Gemeinschaft und Sinn in ihrem Leben und sie wollen etwas tun, das Bedeutung hat. Auch das Leiden anderer Menschen kann ein Auslöser sein, dass man aktiv werden will. Die Frage ist nur, ob sich dieses Bedürfnis auch positiv kanalisieren lässt. Hinzu kommt dann eine Ideologie, die das Handeln rechtfertigt, sinnstiftend erscheint und eine utopische, aber eben bessere Welt zum Ziel haben soll.

Die Furche: Welche Biografien sind besonders anfällig für islamistische Radikalisierung?

Diaw: Einerseits Menschen mit traumatischen Kriegserfahrungen, die entweder selbst aus Kriegsgebieten kommen oder diese Traumatisierungen in den Familien weitergegeben bekommen. Es können auch Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft sein, die diese Ideologie und missverstandene religiöse Vorstellungen annehmen. Nur ein Teil ist sich bewusst, auf was sie sich einlassen. Es gibt ältere Personen mit Kriegserfahrungen und es gibt junge, aufgehetzte Menschen, die keinen Tau haben, was sie erwartet.

Die Furche: Welche Unterschiede oder auch Parallelen zeigen sich bei männlichen und weiblichen radikalisierten Muslimen?

Diaw: Es ist mehrheitlich ein männliches Phänomen, zur Radikalisierung zu tendieren, wenn man sich schwach fühlt. In den Einzelgesprächen hörten wir die gleichen ideologischen Motive von Frauen und Männern. Wenn man die Frauen fragt, warum sie das Land verlassen wollen, geht es ihnen weniger um den Kampf, sondern um das vermeintlich bessere Leben vor Ort. Den Frauen ist durchaus bewusst, dass sie im Gebiet des Islamischen Staates nicht als alleinstehende Frauen leben können und heiraten werden müssen. Es gibt auch Fälle, wo die Mutter mit den Kindern gefolgt ist. Manche junge Menschen, denen eine Vaterfigur fehlt, lassen sich von bestimmten männlichen Bezugspersonen beeinflussen, die als ideo logische Leitfiguren auftreten.

Die Furche: Wo kann man jene Leute abholen, die bereits radikalisiert sind? Welche Rolle spielen Angehörige dabei?

Diaw: Es gibt immer Interventionsgespräche bei bereits radikalisierten Einstellungen oder Handlungen. Die positiven Beispiele aus unserer Tätigkeit beinhalten, dass die Personen freiwillig zurückkehrten, damit also bereit waren, dieser Welt den Rücken zu kehren. Wichtig waren dabei die Bezugspersonen, wie zum Beispiel Sozialpädagoginnen sowie der alte Freundeskreis, den diese Leute bereits aufgegeben hatten. In einem Fall musste mit einem Trick gearbeitet werden: Die Familie täuschte einen schlechten Gesundheitszustand einer wichtigen familiären Bezugsperson vor. Was allerdings für diese ersten Deradikalisierungsschritte hilfreich war, änderte noch nichts an den immer noch vorhandenen ideologischen Überzeugungen. Das war und ist bei einigen unserer Klienten ein fortdauernder, aber sich stets verbessernder Prozess. Diese Leute müssen positive Lebensentwürfe entwickeln können, anstatt sanktioniert zu werden.

Die Furche: In welcher Phase kann man noch einen Zugang zu den Betroffenen bekommen?

Diaw: Man kann glücklicherweise in jeder Phase auf unterschiedliche Art einen Zugang zu den Leuten finden. In unseren Gespräch haben wir immer wieder bestimmte individuelle Zugänge gefunden, da natürlich auch individuelle Lebenssituationen und Motive dahinter stecken. Alle Betroffenen leiden unter belastenden Lebensumständen, sind auf der Identitätssuche, und versuchen, die extremistische Ideologie mit religiösen Texten zu rechtfertigen.

Die Furche: Welche Personen können am ehesten mit radikalisierten Jugendlichen arbeiten? Sind es muslimische Religionspädagogen, die ebenfalls mit dem Koran argumentieren können?

Diaw: In manchen Gesprächen tasten die Klienten durch gezieltes Fragen die Religiosität ihres Gegenübers ab. Wenn sich herausstellt, dass der Gesprächspartner nicht gläubig ist, wird er oder sie gar nicht mehr akzeptiert. Das passiert den uns kontaktierenden Sozial- und Schulpädagogen oder Psychologen immer wieder, genauso wie unseren nicht-muslimischen Kollegen. In einem weiteren Schritt versuchten die Leute das ideologische Wissen ihres Gegenübers durch bestimmte Vokabeln, Phrasen und Nennung von Namen bekannter Ideologen zu ergründen. Sie wollen herausfinden, ob man bestimmte Gruppen von Muslimen überhaupt für Muslime halten würde. Das ist aber sogar gut, weil es so gelingt, eine Gesprächsbasis aufzubauen. So entsteht die Möglichkeit, diese Ideologien zu dekonstruieren.

Die Furche: Was kann eine qualitative Präventionsarbeit bewirken?

Diaw: Sehr viel, da sie es diesen Ideologen schwer macht, zu den Menschen durchzudringen. Erstere predigen die exklusive Gemeinschaft, die einzige Wahrheit, behaupten, Gottes Ratschluss selbst in politischen Einzeldetails der heutigen Zeit zu kennen, als würden sie eine Standleitung zu ihm verfügen. Sie vermitteln ein Gefühl von Sicherheit und Bedeutsamkeit. Dazu brauchen sie auch klare Feindbilder, von denen man sich als der bessere Mensch abgrenzen kann. Die Präventionsarbeit setzt da an, dass sie den Zusammenhalt und das Positive an der Vielfalt aufzeigt, etwa in Projekten wie dem interreligiösen Dialog. So wird das gegenseitige Verständnis gefördert. Dazu gehören auch die von uns angebotenen Workshops und Schulungen. Wir müssen die Deutungshoheit erlangen und dürfen sie nicht den Ideologen und Einpeitschern überlassen. Wir betreiben solche Projekte teils seit rund 15 Jahren, auch wenn man den interreligiösen Dialog oder die Aufklärung über Dschihadismus damals noch nicht "Präventionsarbeit" nannte. Die Best-practice-Beispiele in den europäischen Ländern sind teils sehr beeindruckend, besonders in England.

Die Furche: Wie schätzen Sie diesbezüglich die Kompetenzen der österreichischen Imame ein?

Diaw: Das sind teils ehrenamtliche oder hauptberufliche Imame, die sieben Tage die Woche mit allerlei Fragen beschäftigt sind. Radikalisierte junge Menschen gehen nicht auf diese Imame zu, denen sie teilweise das Muslim sowieso sein absprechen. Dort, wo die Imame aber konfrontiert sind, haben sie uns auch schon kontaktiert, wie auch die Religionspädagogen. Aber Extremisten schaffen sich generell ihre eigenen Räume, indem sie sich von den Mainstream-Moscheen abwenden.

Bücher zum Dschihadismus: Seite 14

Das Gespräch führte Sylvia Einöder

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