"Das müssen wir doch HINBEKOMMEN!"

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Die Journalistin Sibylle Hamann und die muslimische Aktivistin Dudu Kücükgöl über Alice Schwarzers umstrittenes Buch "Der Schock", sexuelle Gewalt, subjektive Sicherheit und die Schlüssel zur Integration.

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Die Journalistin Sibylle Hamann und die muslimische Aktivistin Dudu Kücükgöl über Alice Schwarzers umstrittenes Buch "Der Schock", sexuelle Gewalt, subjektive Sicherheit und die Schlüssel zur Integration.

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Alice Schwarzer war schon immer eine Reizfigur. In ihrem neuen Buch "Der Schock", das die Silvesternacht von Köln zum Thema hat, wird sie dieser Rolle einmal mehr gerecht: Die sexuellen Übergriffe auf dem Bahnhofsvorplatz beschreibt sie etwa als Taten von "Islamisten" (s.u.). Was ist von ihrem Buch zu halten? Wo liegen die Ursachen sexueller Übergriffe? Wie kann man sie verhindern? Und: Was ist mit dem subjektiven (Un-)Sicherheitsgefühl? DIE FURCHE hat zwei Frauen, die sich selbst als Feministinnen verstehen und die arabische Welt bereist haben, zur Debatte gebeten: die Journalistin Sibylle Hamann und die muslimische Aktivistin Dudu Kücükgöl.

DIE FURCHE: Alice Schwarzer beschreibt in ihrem Buch die Silvesternacht von Köln als "Schock". Wie haben Sie sie selbst erlebt?

Sibylle Hamann: Das war schon ein sehr schwieriger Moment. Als das medial aufkam, waren wir gerade sehr mit mehreren syrischen Familien befasst, und ich kann mich erinnern, dass die voll Panik gefragt haben: Was kommt da jetzt, was habe ich damit zu tun? Einige Männer haben aus einer Art Selbstschutz heraus gesagt: Um Himmels willen, wie kann man so etwas machen, das können keine Syrer gewesen sein! Und gleichzeitig war es, aus Frauenperspektive, ebenfalls ein Schock - dass Frauen sexuelle Übergriffe erlebt haben und es wird ihnen tagelang nicht geglaubt und ihre Erlebnisse werden nicht ernst genommen.

Dudu Kücükgöl: Ich kann mich mit der Reaktion der syrischen Freundinnen und Freunde gut identifizieren, weil auch ich mir damals gedacht habe: Welche öffentliche Debatte bricht jetzt los? Und was wird danach auf der Straße passieren - auch mir als erkennbarer Muslimin? Für mich kam dazu, dass die Männer, die hier im Fokus standen, so ausschauen wie mein Vater, mein Bruder oder mein Mann. Da gab es schon die Sorge: Werden die jetzt alle in einen Topf geworfen? DIE FURCHE: Viele werfen Alice Schwarzers Buch genau das vor. Wie beurteilen Sie es?

Hamann: Ich finde, Schwarzer hat in einigen Punkten mehr und in anderen weniger recht. Recht hat sie bei der Aufarbeitung der Gründe, warum es nach Köln so lange gedauert hat, um die Tatsachen beim Namen zu nennen. Hier war zu viel falsche Rücksichtnahme am Werk, und Angst davor, dass die Stimmung sich gegen Flüchtlinge wendet. Richtig finde ich auch ihren Hinweis auf die Frage, wie es den weiblichen Geflüchteten geht. Was sexuelle Übergriffe und Gewalt auf der Flucht, in Heimen, aber auch in ihren Beziehungen betrifft, wird vieles zu wenig thematisiert. Und auch, dass wir arabische Frauen zu oft alleinlassen im Kampf gegen Unterdrückung, ist richtig. Was mich aber stört, ist, dass Schwarzer zu oft in Richtung eines "die Araber/Muslime/jungen Männer sind halt so" kippt und zu wenig darauf Bedacht nimmt, dass Verhaltensweisen ja erst durch Erfahrung entstehen und durch neue Erfahrungen beeinflussbar sind. Da glaube ich eher an die Kraft persönlicher Beziehungen als an die Macht der Ausgrenzung. Auch die Begriffe "Islam","politischer Islamismus" und "patriarchale Traditionen" werden zu rasch in eins gesetzt.

Kücükgöl: Mich stört, dass sexualisierte Gewalt, wie sie in Köln passiert ist, überhaupt mit Islam oder Muslimsein in Verbindung gebracht wird. Wenn alkoholisierte Männer Frauen belästigen, was hat das mit dem Islam zu tun -außer, dass diese Männer offensichtlich prinzipielle, islamische Verhaltensweisen missachten? Wenn dann Schwarzer in Zusammenhang mit Köln auch noch von "Dschihad" redet, dann ist das völlig absurd und es wird klar, dass hier kein ehrliches Interesse an irgendwelchen Problemen besteht, sondern es um Stimmungsmache gegen Musliminnen und Muslime

geht. Ja, reden wir über sexualisierte Gewalt, ja, reden wir über spezielle Probleme in manchen Milieus -aber nicht auf Grundlage von Generalisierungen, sondern von Fakten. Ich habe aber das Gefühl, dass die Debatte zu Köln teilweise wirklich vergiftet ist und auch rassistisch geführt wird.

Hamann: Das Wort "Rassismus" möchte ich hier aber schon problematisieren: Wenn ich sage, dass eine spezielle Form von Gewalt etwas zu tun hat mit einer gewissen Prägung, die Menschen in einer stark patriarchalen Kultur erfahren haben -womöglich auch gerechtfertigt durch Argumente des Koran -, dann ist das nicht rassistisch. Ich argumentiere hier ja nicht mit einem rassischen Merkmal dieser Person, sondern mit ihrer bisherigen Prägung. Wenn jemand, der in einer Kultur aufgewachsen ist, in der Sexualität repressiv behandelt wird, von einem Tag auf den anderen völlig entwurzelt in einer ganz anderen Gesellschaft ankommt, die einen ganz anderen Umgang mit Sexualität pflegt, dann ist natürlich klar, dass es zu Problemen kommt. Diese Menschen müssen erst gewisse Erfahrungen machen -etwa dass eine Frau, die spät abends leicht bekleidet allein unterwegs ist, keine Hure ist.

Kücükgöl: Dass das Phänomen der Entwurzelung hier hereinspielt, ist plausibel -aber wenn man es generell auf die Kultur schiebt, wird es problematisch. Ich kenne ganz viele arabische, muslimische Männer, die genau gar nichts mit sexistischen Verhaltensweisen zu tun haben. Der neue Rassismus arbeitet aber gerade mit dieser Kulturalisierung, es ist ein Rassismus, der ohne Rassen auskommt, wie auch Stuart Hall (2014 verstorbener, britischer Soziologe, Anm.) gesagt hat und die deutsche Rassismusforscherin Yasemin Shooman in ihrem Buch "weil ihre Kultur so ist" schreibt. Dazu kommt wie gesagt, dass die Männer, die die Frauen begrabscht haben, mehrheitlich alkoholisiert waren. Was an beidem ist islamisch?

Hamann: Diese Frage kann ich nicht beantworten, das muss man innermuslimisch diskutieren. Ich habe auch von Prägungen gesprochen. Und wenn ein Jugendlicher, der im Afghanistan der Taliban aufgewachsen ist und gewöhnt war, dass Frauen unter einer hellblauen Burka stecken, plötzlich mit 15 oder 16 Jahren ohne Familie oder haltende Struktur in eine völlig andere Situation hineingeworfen wird, dann ist das einfach schwierig. Und es rührt mich auch als Mutter, wenn ich mir vorstelle, was in so einem Burschen vorgeht.

DIE FURCHE: Was würde er brauchen?

Hamann: Beziehung, Kommunikation, Einbindung in unseren Alltag, Lernen durch Begegnungen! Wenn dieser Bursch hier eine Familie hätte, die sich seiner wie Paten annehmen würde und in der er lernen könnte, wie hier Männer und Frauen miteinander umgehen, wäre viel gewonnen. Kücükgöl: Da stimme ich Ihnen voll zu.

Die Furche: Inwiefern könnte oder sollte die islamische Community selbst aktiv werden, um den Ankömmlingen eine Orientierungshilfe für das Leben in Österreich zu geben?

Kücükgöl: Der Kontakt zwischen der ansässigen muslimischen Bevölkerung und den Neuankommenden ist sicher noch ausbaufähig. Das sind derzeit eher getrennte Sphären, aber nicht, weil die muslimische Community den Flüchtlingen nicht helfen würde - die Muslimische Jugend Österreich hilft etwa gerade im Rahmen einer Aktion im Ramadan in Flüchtlingsheimen mit - sondern weil viele Flüchtlinge in entfernten Unterkünften sind. Dazu kommt die Sprachbarriere, weil die Flüchtlinge in erster Linie arabischsprachig sind.

Hamann: Viele der Syrer können türkisch, weil sie lange in der Türkei gelebt haben. Aber ich sehe die hier lebenden Muslime nicht mehr in der Pflicht als uns alle. Allerdings kann ich mich schon an konkrete Situationen erinnern, in denen es vielleicht geholfen hätte, wenn jemand sagt: Schau, auch du als Muslimin kannst das bei uns machen: Radfahren, Schwimmen, etc., das ist hier normal. Aber ich bin auch geprägt, weil ich mir gerade das Projekt "Heroes" in Berlin angeschaut habe, bei dem Burschen andere Burschen, die aus einer arabisch-muslimisch geprägten Community kommen, stärken und ihnen helfen, sich von tradierten, patriarchalen Normen und vom schwierigen Ehrbegriff zu lösen (vgl. FURCHE Nr. 17). In Wien ist das auf Eis gelegt, aber ich hoffe noch, dass es stattfinden wird.

Kücükgöl: Dass Burschenarbeit wichtig ist, kann ich nur unterstreichen. Die passiert auch, beispielsweise in der Muslimischen Jugend. Ich möchte selbstbewusste, emanzipierte Burschen, für die es selbstverständlich ist, Frauen zu respektieren. Für die wirksamste Strategie, um Männer zu erziehen, halte ich aber das Empowerment von Frauen, deshalb gibt es bei uns schon seit langem einen Frauenförderschwerpunkt.

Die FurcHe: Tatsache ist aber, dass es insbesondere mit jungen Asylwerbern Probleme gibt: Zuletzt hat etwa eine Vergewaltigung am Wiener Praterstern für Schlagzeilen gesorgt und das subjektive Sicherheitsempfinden vieler Frauen weiter reduziert. Wie soll man mit diesem Phänomen umgehen?

Hamann: Ich wohne selbst am Praterstern und erlebe schon seit Jahren, dass das ein unangenehmer Ort ist. Da gibt es Obdachlose und Alkoholiker, es riecht, es stinkt und es ist zunehmend auch ein Ort geworden, wo sich Leute treffen zum Rumhängen -auch viele jugendliche Afghanen. Ich fürchte mich nicht, aber ich verstehe schon, wenn meine 13-jährige Tochter sagt: Ich geh' da nicht gern allein hin, auch nicht am frühen Abend. Aber es sollte doch möglich sein, dass wir das hinbekommen - und zwar einerseits durch engmaschige soziale Kontrolle mit Hilfe der Polizei und andererseits durch soziale Hilfsangebote und niederschwellige Betreuungsformen. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum 15-jährige afghanische Burschen in Wien nichts zu tun haben, in keine Schule gehen dürfen und einen Bildungs-und Erlebnishunger mitbringen, der nicht gestillt wird. Es muss doch möglich sein, ihr Potenzial und ihre Energie sinnvoll und produktiv zu nützen.

Kücükgöl: Das glaube ich auch. Ich habe aber auch meine grundsätzlichen Fragen an diese Meldungen über Vergewaltigungsfälle. Wann werden welche Übergriffe publiziert? Und welche Zusatzinformationen werden gegeben? Hier bin ich schon für Vorsicht, denn es gibt auch eine manipulative Verbreitung von Neuigkeiten. Außerdem gibt es viele Frauen, die sich schon seit längerem in Österreich nicht wohlfühlen und Übergriffe erleben, etwa muslimische oder schwarze Frauen. Nach den Anschlägen in New York im Jahr 2001 und noch viel mehr nach den ersten Köpfungsvideos des IS 2014 ist es regelmäßig vorgekommen, dass sichtbare Musliminnen geohrfeigt oder getreten worden sind. Aber gelesen hat man davon kaum. Hamann: Ich stimme Ihnen zu, dass man hier viel zu wenig hingeschaut hat und hinschaut. Nur sind genau die Frauen, von denen Sie reden, zusätzlich zur rassistischen Gewalt oft auch sexistischer Gewalt in der eigenen Community ausgesetzt. Etwa wenn es zu sozialer Kontrolle durch Familienmitglieder kommt, wenn Brüder ihren Schwestern sagen: "Warum sitzt du mit einem fremden Typen im Kaffeehaus? Geh heim "

Kücükgöl: Es stimmt, es gibt Frauen, die in dieser Doppelzange sitzen. Dennoch ist es doch unser gemeinsames Anliegen, dass sich alle Frauen frei und ohne Angst in der Öffentlichkeit bewegen können. Das subjektive Sicherheitsgefühl kann man etwa durch Polizeipräsenz verstärken. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass dieses Gefühl durch rassistische Bilder vorbelastet ist: Es gibt Studien, wonach weiße Frauen eher zu ihren Handtaschen greifen, wenn ein dunklerer Mann in der Nähe steht.

Hamann: Vielleicht ist es ja diese Gruppensituation, die Angst macht: Wenn eine Gruppe Halbwüchsiger spät abends irgendwo steht, dann wechsle auch ich die Straßenseite. Wäre es anders, wenn die Männer eine hellere Haut hätten? Ich weiß es nicht. Dabei könnten das die nettesten Burschen sein, und sie könnten sich natürlich auch denken: Haben wir etwas falsch gemacht?

Kücükgöl: Ich würde vielleicht eher bei einer Gruppe halbwüchsiger Blonder die Straßenseite wechseln als bei türkisch aussehenden Männern. Aber das nur nebenbei.

Die Furche: Apropos fürchten: Wie sehr ängstigen Sie sich vor der Wahl am kommenden Sonntag, bei der die Themen "Angst" und "Sicherheit" ja eine große Rolle spielen?

Hamann: Angst und Panik erzeugen immer das Bedürfnis, sich autoritären Leuten anzuschließen, die schnelle Lösungen versprechen. Ich halte das natürlich für gefährlich und furchtbar. Das einzige Gegenrezept ist Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung und Ehrlichkeit, Ehrlichkeit, Ehrlichkeit.

Kücükgöl: Ich habe keine Angst vor den Rechtspopulisten allein, aber ich habe Angst vor einer rechtspopulistischen Stimmung und vor der Übernahme von rechtspopulistischen Argumenten durch die so genannten Großparteien. Wir brauchen gar keinen blauen Bundespräsidenten oder Bundeskanzler, um Panik und Angstmache zu erzeugen. Manchmal schafft das auch schon der Innenminister (Wolfgang Sobotka, siehe links), wenn er in Interviews einen Bogen von Freibädern und sexualisierter Gewalt zum Dschihadismus spannt.

Hamann: Ja, er hat sogar einen Bogen vom Brunnenmarkt zur Asylpolitik gezogen. Und das Wort "Fremdenkriminalität" fand ich auch furchtbar. Aber Angst habe ich trotzdem nicht.

Die Diskutantinnen

Dudu Kücükgöl

Die in Ankara geborene Wirtschaftspädagogin war bis 2015 Vorstandsmitglied der Muslimischen Jugend Österreich und ist als Feministin und Aktivistin in der muslimischen Community tätig. Derzeit schreibt sie an ihrer Dissertation über postkoloniale, feministische Theorien und muslimische Frauen.

Sibylle Hamann

Die studierte Politikwissenschafterin hat ab 1990 beim Kurier und von 1995 bis 2006 beim Profil gearbeitet. Ihre Recherchen führten sie u.a. in den Nahen und Mittleren Osten und nach Afghanistan. Heute ist sie freie Journalistin, ständige Autorin für Falter und Alice Schwarzers Emma sowie Presse-Kolumnistin.

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