Sexuelle Gewalt vernichtet Gesundheit

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Gewaltopfer leiden meist an traumatischen Folgen und können mit Hilfe und Mitgefühl rechnen - außer sie sind weiblich und sexuell mißhandelt worden.

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Gewaltopfer leiden meist an traumatischen Folgen und können mit Hilfe und Mitgefühl rechnen - außer sie sind weiblich und sexuell mißhandelt worden.

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Vergangenen Freitag prüfte ich an der Universität Klagenfurt. Unter den angetretenen Studentinnen und Studenten war auch eine Frau, die ihre Seminararbeit über die psychische Veränderung einer jungen Frau geschrieben hatte, die von ihrem Lehrherren, einem Friseur, sexuell mißhandelt worden war. "Sie traut sich nicht mehr nach V.", ergänzte die zukünftige Psychologin im Prüfungsgespräch, "denn der Gedanke, ihren Peiniger womöglich auf der Straße zu treffen, verfolgt sie". Ihre abgebrochene Lehre könnte sie nicht fortsetzen, weil jeder Versuch, wieder in den Friseurberuf einzusteigen, neuerliche Erinnerungen an die seinerzeitigen Situationen unentrinnbarer Hilflosigkeit auslöse - ebenso wie der Gedanke an einen Berufswechsel.

Intrusion heißt diese Form von Zwangsgedanken, Zwangsgefühlen, die Menschen hindern, ein "normales" Leben zu führen. Sie gehört zu den klassischen Symptomen des Posttraumatischen Belastungssyndroms (PTSD - Posttraumatic Stress Disorder), und dieses wurde erst im Hinblick auf die "unverständlichen" Leidenszustände von Vietnam-Veteranen wahr- und ernstgenommen und in der Folge wissenschaftlich erforscht. Daß dies der US-Regierung wert erschien, diesbezügliche Forschungen zu finanzieren, erscheint logisch: es sollten ebenso weitere Kritikansätze am Vietnamengagement kleingehalten werden wie allfällige Schadenersatzansprüche (vgl. Judith L. Herman, Die Narben der Gewalt). Daß im Zuge der Beschäftigung mit diesen "Auffälligkeiten" erkannt wurde, daß auch andere Gewaltopfer, wie Menschen, die als Geisel genommen worden, gefoltert oder "nur" sexuell mißhandelt worden waren, die Katastrophen überlebt oder auch mitbewirkt hatten - wie Polizisten nach Schußwaffengebrauch - denselben Traumafolgen unterliegen, gilt nicht nur in der medizinisch-psychologisch-psychotherapeutisch erfahrenen Fachwelt als unumstößliche Gewißheit - außer die traumatisierte Person ist weiblich und sexuell mißhandelt worden. Denn wenn eine Frau sexuell belästigt oder mißhandelt wird, werden üblicherweise sofort Zweifel laut, ob die Frau nicht nur männliche "Gunstbezeugungen" falsch "gewürdigt" hätte - beispielsweise, wenn die Frau zwangsumarmt wurde; ob der inkriminierte Sachverhalt überhaupt möglich wäre - beispielsweise eine Vergewaltigung, wenn das weibliche Opfer enge Jeans trage; ob die Frau überhaupt die Wahrheit sage - wenn sie etwa behauptet, sich nicht hätte wehren zu können. Schock gilt nicht.

Die "Alltagsmythen" (Roland Barthes) darüber, was "normales" männliches oder weibliches Sexualverhalten sei, basieren noch immer auf den "Männerphantasien" (Klaus Theweleit) vom aggressiv-bestimmenden Mann, der über Frauen und Kinder nach Belieben verfügt. Rechtshistorisch betrachtet zeigt sich die darin, daß erst im Mittelalter der verletzten Frau selbst ein Bußgeld nach Vergewaltigung zugesprochen wurde - vorher hingegen dem Mann, der als ihr Besitzer angesehen wurde, also dem Vater, Bruder, Onkel, Ehemann, denn sexuelle Mißhandlungen galten quasi als Besitzstörung oder Sachbeschädigung. Die Frau wurde nicht als eigenständige Person mit Persönlichkeitsrechten und insbesondere dem Recht auf körperliche Unversehrheit angesehen.

Auch heute noch kleben die Reste dieser Gesinnung im Strafrecht wie in den Denkapparaten von Richtern, leider auch Richterinnen: wenn beispielsweise noch immer Formulierungen wie "Sittlichkeitsdelikte" gebraucht werden oder es im Strafgesetzbuch "Zehnter Abschnitt: Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit" heißt, zeigt das, daß der Gesetzgeber ignoriert, daß es sich bei Vergewaltigung, Nötigung, Schändung, Beischlaf oder Unzucht mit Unmündigen und so weiter um schwere Verletzungen der Körper-Seele-Geisteinheit Mensch mit oft lebenslangen Folgen handelt - das schützenswerte Gut also Leib und Leben sein müßte und nicht eine vage angedeutete öffentliche Meinung, was gegen gute Sitten sei.

Allein die Einordnung dieser Delikte in der Rangordnung der fünfundzwanzig Abschnitte des Strafgesetzbuches im zehnten und nicht im ersten, "Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben", beweist die Minderachtung der sexuellen Gesundheit. Als Mitglied der Gruppe von Fachleuten im Justizministerium, die seit Dezember 1996 an der Reform des Sexualstrafrechts arbeitet, weise ich immer wieder darauf hin, daß jede Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung schwerwiegende und nachhaltige Folgen für die leibseelischgeistige Gesundheit von Menschen zeitigt.

Als auf alle Formen von Traumatisierungen spezialisierte Psychotherapeutin kann ich aus meiner mehr als 30jährigen Berufspraxis berichten, daß wenig Unterschied besteht zwischen der ganzheitmedizinisch diagnostizierten Reaktion eines Menschen, der gerade einer Naturgewalt, einer Flammenhölle, einer Lawine, einem Raubüberfall oder einer sexualisierten Attacke auf den Körper entkommen ist - nur die Bewertungen sind anders.

Die Person, die mit einer sexualisierten Gewalthandlung attackiert wurde, kann nicht wie alle anderen Gewaltopfer mit Mitgefühl, Verständnis für ihre Reaktion und Geborgenheit in der Gesellschaft rechnen, sondern ihr subjektives Erleben wird einer sogenannten "objektiven" Beurteilung unterzogen, nämlich von Menschen, die ihr "Fachwissen" nur aus Erzählungen, Medienberichten oder bildlichen und filmischen Darstellungen beziehen beziehungsweise ihren Vorurteilen frönen.

Aus sexualwissenschaftlicher Sicht ist bei allen Bereichen sozialer Beziehungen immer auf die Genderproblematik zu achten: wo dienen Regelungen dem Gewinn und Erhalt männlicher Macht über Frauen (und Kinder)? Wo werden noch immer Denkmodelle angewendet, die aus Zeiten stammen, in denen Frauen mangels Zugang zu Bildung und Wissen kleingehalten werden konnten und daher auf Beschützer oder "Besserwisser" angewiesen waren? Und vor allem: wo überall werden mittels medialer Vor-Bilder derartige Denk- und Handlungsanleitungen suggeriert?

Denn dieselben Besserwisserinnen und Besserwisser, die meinen, man müsse übervierzehnjährige Burschen vor sexueller Belästigung durch homosexuell orientierte Männer - beispielsweise Lehrer oder Seelsorge, Vaters Freunde oder den großen Unbekannten in der Herrentoilette - schützen, sprechen weiblichen Jugendlichen oder weiblichen Erwachsenen Schutzbedürfnisse ihrer sexuellen Integrität ab.

Ich finde es zu wenig, Enqueten zum Thema "Aggression und Gewalt in der Gesellschaft" oder "Gewalt in den Medien" zu veranstalten, die einerseits der Selbstberuhigung dienen, es wäre ohnedies alles nicht so gefährlich, oder der Selbststimulierung, es wäre alles viel gefährlicher und man zeige sich aktiv, andererseits der Selbstdarstellung, was man nicht alles zur Vorbeugung oder Reparatur von Gewalt initiiert hätte: eine Beratungsstelle da, eine Information dort.

Es enttäuscht mich auch, wenn die Frauenministerin mit den TV-Spots "Platz da" Platz für Darstellung altmodischer Geschlechterdifferenz "initiiert", und nicht etwa für Respekt für den Sicherheitsabstand von Kindern und Frauen.

Zur traditionellen Geschlechterdifferenz gehört, daß die meisten Männer zu dem Glauben erzogen wurden, Männlichkeit werde bewiesen, wenn man sich auf jeden Fall durchsetzen könne. Nachgiebigkeit gilt als weibisch. Gefühle haben auch.

Der junge Wissenschaftszweig der Männerforschung bringt zu Tage, daß es vor allem die Angst ist, nicht männlich genug zu sein, die Männer zu sexistischem Verhalten, sexuell gefärbten Mobbinghandlungen und sexualisierten Gewalttaten motiviert; und sie motiviert auch andere Männer - und Frauen, die "neutral", nämlich nicht Zielscheibe für Männergewalt, sein wollen - zu Zustimmung und Solidaritätskundgebungen.

Wenn wir also schon von auflagen- und quotenjagenden Medienmachern und leider auch -macherinnen fast unentwegt mit Vor-Bildern besendet werden, die vermitteln, Frauen hätten der männlichen Geilheit oder Unterwerfungslust zu dienen, oder Frauen wären Körperteile zur Selbstbedienung, dann erwarte ich von den zuständigen Ministerinnen und Ministern, daß sie ihre Werbebudgets dazu verwenden, gegen diese Entpersönlichungen zu protestieren oder Warnungen auszusprechen wie etwa "Solche Gewalt vernichtet Gesundheit" oder "Dieses Verhalten kann ihre Beziehungen zerstören".

Ich wünsche mir "Initiativen", daß Film- und Fernsehprodukte verpflichtend kommentiert werden müssen; ein paar Minuten vorher oder nachher, in denen die fehlenden medizinischen, psychologischen, juristischen Informationen verabreicht werden: welche Folgen hat dieses oder jenes Verhalten, und auch: wie bewerten wir als Gesellschaft partnerschaftlich denkender Menschen Machtmißbrauch und Gewalt. Ich kann mir gut vorstellen, daß Studentinnen und Studenten der Filmakademie, der Psychologie oder der Pädagogik kreativ genug wären, im Rahmen ihrer Ausbildung derartige Anti-Gewalt-Spots zu designen.

Ihnen das dazu notwendige Material zur Verfügung zu stellen, kostet sicher weniger als sexistische Inserate wie die "heiße Fracht"-Kampagne der ÖBB.

Die Autorin ist Psychotherapeutin/Psychoanalytikerin, promovierte Juristin, Gastprofessorin für Sexualtherapie am Institut für Psychologie der Universität Klagenfurt, Lehrbeauftragte für Didaktik der Gewaltprävention am Zentrum für das Schulpraktikum der Universität Wien, Allgemein beeidete Gerichtssachverständige, 1. Vorsitzende der Österr. Gesellschaft f. Sexualforschung.

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