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Die Sexualisierung fuhrt in die Irre

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Als in den sechziger Jahren die Welle der Sexemanzipation Europa überrollte, stieß sie kaum auf Damm und Wehr. Von anfänglichen Schockzeichen abgesehen, drang sie rasch in alle sozialen Schichten und weltanschaulichen Gruppierungen ein und fand besonders unter der Jugend breite Zustimmung. Begierig von den Massenmedien aufgenommen, wurden diese bald die eifrigsten Propagandisten der neuen Sexualmoral, für die es außer dem Strafgesetz keine Tabus und Grenzen mehr gab.

An hochgeschraubten Verheißungen fehlte es nicht. Ein neuer Menschheitsfrühling würde der Abkehr von der antiquierten Gesellschaftsmoral und der kirchlichen Morallehre folgen. Neurosen, Aggressionen, ja sogar Kriege — alles Ergebnisse einer sexualrepressiven Lebensführung und Gesellschaftspolitik — würden verschwinden und einer Atmosphäre des Friedens und der Freunde weichen.

Ideen und Vorstellungen solcher Art haben in wenigen Jahren die Kulturlandschaft weitgehend verändert. Sexuelle Motive, Darstellungen und Schilderungen beherrschen Publikationsorgane, Film und Bühne, Fernsehen und Werbung wie nie zuvor. Sex ist ubiquitär geworden.

Parallel dazu hat sich das Moralbewußtsein, haben sich individuelle und soziale Verhaltensnormen in Richtung einer maximalen Freizügigkeit verschoben. Der ethische Bezug der Sexualität zu den Grundfragen des Lebens wurde weithin von einer oberflächlichen, lustorientierten Einstellung abgelöst.

Der geschlechtlichen Aktivität, in welcher Form immer und auf jeder Altersstufe, wird in der modernen westlichen Gesellschaft der größte Wert bei der Selbstverwirklichung und der Befreiung von inneren und institutioneilen Zwängen zugemessen.

Wer nun erwartet hätte, daß dieser Umkehrung der Werte der in Aussicht gestellte positive psy- chohygienische Effekt, die Harmonisierung der privaten und öffentlichen Lebenssphäre folgen würde, sieht sich schwer enttäuscht. Sogar Neurosen, das klassische psychopathologische Äquivalent der Sexualrepression, sind in der Ära der Sexemanzipation beträchtlich angestiegen und zu einer zeittypischen Erscheinung geworden. Daneben hat die gesellschaftliche Verwilderung ein alarmierendes Ausmaß erreicht.

Die Sexemanzipation erweist sich somit aus psychologischer und soziologischer Sicht als Fehlkalkulation und es ist aufzuzeigen, inwiefern die Loslösung der Sexualität von ihrer ethischen Zuordnung gerade das Gegenteil von dem bewirkt, was sich ihre Initiatoren davon versprechen.

Der Sexualtrieb ist wohl hormonal, also organisch bedingt, doch liegen die Umstände seiner

Aktivierung auf einer anderen Ebene, auf der es nicht bloß ums Vergnügen geht, sondern um eine aus der Gesamtnatur des Menschen hervorgehende, sehr ernste Verantwortung dem Leben gegenüber. Sie bezieht sich auf den Zeugungsakt und die Verpflichtung der Eltern, für die materiellen und geistigen Bedürfnisse der Nachkommen bis zu deren Selbstständigkeit zu sorgen.

Das sind Aufgaben, die über den biologischen Bereich hinäus- gehen und ein hohes geistig-seelisches Engagement erfordern.

Die Voraussetzung hiefür bildet die essentielle Verflechtung des Sexualtriebes mit den Kräften des Verstandes und Gefühls, welche zu den elementarsten Erfahrungen der Menschheit gehört und erst das Wesen der „humanen“ Liebe ausmacht.

Sie führt — im Gegensatz zum Tier - über die bloß körperliche Vereinigung hinaus zu einer personalen Verschmelzung in einer umfassenden gegenseitigen Hingabe. Dadurch wird die menschliche Liebe zu einer einzigartigen natürlichen Schule sozialen Lebens zwischen den Partnern und zwischen ihnen und ihren Nachkommen, aber letzten Endes unter den Menschen überhaupt.

Die menschliche Sexualität ist ihrer Natur nach gemeinschaftsbildend, aber nicht im Sinne flüchtiger Begegnungen zum Lustgewinn, sondern der Begründung dauerhafter Beziehungen, wie sie eben zur sozialen Reifung unerläßlich sind und in Ehe und Familie ihre spezifische Ausformung erlangen.

Sobald in der Sexualität das Streben nach Lustgewinn vorran

gig wird, bleibt der seelische Affekt imbeantwortet und unbefriedigt, was einer Entfremdung des naturgegebenen Konzepts der Sexualität gleichkommt und sich destruktiv auf Persönlichkeit und Umweltbeziehung des Individuums auswirken muß. Sex wird solcherart zum simplen Konsumbedürfnis und Konsumerlebnis, welches ständig nach Abwechslung und Steigerung verlangt.

Charakterlich entspricht dieser Konsumhaltung ein Egoismus, der sich über das Partnerschicksal glatt hinwegsetzt und die Sexualität auch skrupellos als Machtinstrument zur Ausbeutung des Liebesbedürfnisses anderer einsetzt. An Stelle der Ehe treten unverbindliche „Verhältnisse“, die auseinander fallen, sobald ein anderes Objekt mehr Anreiz bietet. Aus dem gleichen Grunde sind heute auch Ehen mcht viel dauerhafter, wie die Scheidungsrekorde zeigen. Auch solide Ehen unterliegen mit der Zeit den suggestiven Einflüssen eines Gesellschaftsklimas, in dem der Sinnengenuß Triebfeder des Handelns geworden ist.

Es liegt auf der Hand, daß solche im Kern labile Verbindungen keine Neigung zu einem Nachwuchs zeigen und bei eintretender Schwangerschaft die Abtreibung vorziehen.

Das traurigste Schicksal aber erleiden zumeist Kinder, die aus ungeordneten, fluktuierenden Beziehungen hervorgehen. Ohne familiäre Liebe und Geborgenheit sind sie vielfach Ausgestoßene von früher Jugend an. Selbst wenn die materielle Existenz gesichert erscheint, ist die seelische Not meist so groß, daß viele daran zerbrechen, wie die Leidensgeschichten gestrandeter Jugendlicher täglich vor Augen führen.

Was nun die Neurosen betrifft, ist leicht einzusehen, daß lockere Geschlechtsgemeinschaften ganz wesentlich zu deren Eskalation beitragen, wovon in erster Linie Frauen betroffen werden, die im Kampf der Geschlechter erfahrungsgemäß mehrheitlich die Verlierer sind.

An sich ist das Zusammenleben ohne tiefere Bindung bereits reich an Spannungen, weil die Basis zu schmal und unsicher ist. Kommt es zur Trennung und wiederholt sich das Spiel mit anderen Partnern, steigert sich die psychische Alteration bis zur Frustration und Verzweiflung. Das Ergebnis ist

häufig die Ausbildung von Psycho- und Organneurosen, wenn nicht überhaupt eine Verzweiflungstat.

Auf die Gesamtheit unersetzlicher Lebenswerte, die durch die sexuelle Ungebundenheit dezimiert werden, kann hier nicht eingegangen werden. Genannt seien nur die Intimsphäre als innerster individueller Bereich; der sexuelle Erlebniswert, der durch die Technisierung und Vermarktung des Sexualaktes seine natürliche Qualität einbüßt; nicht zuletzt

auch das Selbstwertgefühl und die kreative Kraft, von Sigmund Freud als Sublimierung bezeichnet, die aus Selbstbeherrschung und Triebverzicht hervorgehen.

Die Sexualisierung der Gesellschaft führt also, wie die Erfahrung eindeutig zeigt, keineswegs zu deren Harmonisierung, sondern zu Neurotisierung und Desintegration, nicht zur Kultivierung, sondern zum kulturellen Abstieg.

Alles Triebhafte im Menschen wie Aggressionslust, Machtgier, Habgier usw. bedarf der Zähmung durch den Willen auf Grund der Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Ohne Triebbeherrschung ist soziales Leben nicht möglich, gibt es keine Kultur und keinen echten Fortschritt. Der Sexualtrieb macht da keine Ausnahme.

Aber Triebbeherrschung ist keineswegs gleichzusetzen mit Triebnegation. Vorwürfe wie Leibfeindlichkeit, Verteufelung des Naturtriebs usw. gehen damit ins Leere. Es geht im Gegenteil darum, der Sexualität ihren natürlichen Stellenwert einzuräumen, nämlich den, der eine wahrhaft humane Gestaltung individuellen und sozialen Lebens bestmöglich garantiert.

In dieser Hinsicht ist eine allgemeine Bewußtseinsänderung, eine Korrektur des Zeitgeistes

durch eine Aufklärung im besten Sinn des Wortes dringend erforderlich. Vor allem gilt es, der wissenschaftlich unhaltbaren, maßlosen Übertreibung und Verallgemeinerung entgegenzutreten, wonach Triebbeherrschung an sich automatisch eine Neurose bewirke.

Gewiß sind Neurosen vielfach Ausdruck unbewältigter psychischer Spannungen und Konflikte, aber doch nicht im sexuellen Bereich allein. Nachdem Leben und Kultur wesensmäßig mit Triebüberwindung verknüpft sind, wird es auch immer Neurosen geben. Weil aber Triebausleben nicht weniger, sondern noch mehr Konflikte mit sich bringt, geht auch die Rechnung der Sexemanzipation auf Verhinderung von Neurosen nicht auf.

Die negativen gesellschaftspolitischen Auswirkungen einer biologistischen Sexualauffassung lassen die kirchliche Sexualethik, die namentlich Johannes Paul II. unermüdlich verteidigt, wieder in einem anderen Licht erscheinen.

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