Kreuzzug gegen Kinder

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Kinder und Sexualität ist eine heikle Sache. Aber auch die Erwachsenen haben oft ein verkrampftes Verhältnis zu diesem Thema (Fortsetzung von Seite 1).

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Kinder und Sexualität ist eine heikle Sache. Aber auch die Erwachsenen haben oft ein verkrampftes Verhältnis zu diesem Thema (Fortsetzung von Seite 1).

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Schwerwiegender Inzest" lautet die Anklage. Ob Raoul überhaupt weiß, was das bedeutet? Als Inzest gilt in Colorado bereits die sexuelle Berührung zwischen Geschwistern. Schwerer Inzest liegt vor, wenn der Altersunterschied groß und die mißbrauchte Person unter zehn Jahren ist. Der Vorwurf des "schweren Inzests" gegenüber Raoul klingt absurd. Der Bub war zum Zeitpunkt der vermeintlichen Tat selbst erst zehn Jahre alt. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß ein vorsätzliches sexuelles Motiv mit im Spiel war.

Kinder und Sexualität - natürlich ist das ein heikles Thema, nicht nur in Amerika. Kinder widmen diesem Bereich in der Regel große Aufmerksamkeit, was auch bei uns von den Erwachsenen nicht immer richtig gesehen und interpretiert wird.

Die Sexualneugier der Kinder variiert je nach Alter und ist ein notwendiger Entwicklungsschritt. Kinder sollen ihren Körper erfahren dürfen, darüber ist man sich in unseren Breiten heute einig. Eine liebende, verständnisvolle Einfühlung und Führung ist die angemessene Reaktion der Erwachsenen, sagen Psychologen. Ein Hinabsenken ins familiäre Schweigen oder die gewaltsame Unterdrückung der kindlichen Neugier wäre jedenfalls ein falscher Weg. Erst wenn das kindliche Treiben über das normale Maß hinausgeht, muß eingegriffen werden. Entweder in der Familie selbst oder mit Hilfe von Psychologen und Therapeuten - aber auf gar keinen Fall durch Strafe und Kriminalisierung, wie das in den USA praktiziert wird.

Durchaus möglich, daß auch Raoul - wenn überhaupt etwas in dieser Richtung vorgefallen ist - seiner Neugier freien Lauf ließ, und es dabei zu einer Entgleisung kam. Aber selbst wenn sein Drang über ein "normales" Maß hinausgegangen wäre, rechtfertigt nichts die Vorgangsweise der amerikanischen Justiz. Die näheren Umstände dieses Falles geben ebenfalls Anlaß zum Nachdenken. Es war auch eine Art Neugier, die den Fall mit allen schrecklichen Konsequenzen überhaupt ins Rollen brachte: Evergreen, der Ort des Geschehens, wird beschrieben als "spießiges Kaff" bei Denver. Die Nachbarin - sie wird in den Medien mitunter als schrullige, alte Künstlerin dargestellt - hat "etwas" gesehen. Aber was genau?

"So etwas" zu sehen und nicht zu reagieren, habe sie nicht für mit ihrem Gewissen vereinbar gehalten, sagte sie in einem Interview. Daher habe sie eine ihr bekannte Sozialarbeiterin benachrichtigt.

Auch ein "unbefangener" Blick aus dem Fenster kann ein Ereignis mitunter in eine ganz bestimmte Richtung drängen. Alles Schauen und die damit verbundene Wertung des Geschauten geschieht immer unter bestimmten psychologischen Voraussetzungen. Man sieht die Welt durch eine "gefärbte" Brille. Die Kinder wurden von einer Frau beobachtet, die - nach eigenen Angaben - selbst sexuell mißbraucht worden war. Sie könnte bei der Einschätzung des kindlichen Treibens durchaus ihren eigenen Erfahrungen, Vorprägungen und Ängsten zum Opfer gefallen sein.

Aber das ist nicht der einzige fragwürdige Punkt in dieser Tragödie: Die Eskalation dieses Falles kommt inzwischen nicht nur von der amerikanischen Justiz, sondern zunehmend auch von den Eltern Raouls selbst. Es scheint, als ob das Kind auch von dieser Seite her in Bedrängnis gerät.

Raouls Stiefvater flüchtete mit dem Rest der Familie in die Schweiz. Nach eigenen Angaben deshalb, weil sie eine Anklage wegen Vernachlässigung der Kinder fürchteten. Jetzt touren die Eltern durch Europas Fernsehstationen, mobilisieren die Medien, um (moralischen) Druck auf die USA auszuüben.

Vielleicht liegt dem Verhalten der Eltern auch anderes zugrunde. Man verbindet inzwischen - nicht nur in Amerika - Raouls Verhalten mit einer ganz besonderen familiären Situation - entweder sei der Bub selbst einmal sexuell belästigt worden, oder er habe Zugang gehabt zu einschlägigen Magazinen und Videos. Tatsache ist jedenfalls, daß die Eltern planten, im Internet ein Sexangebot zu plazieren. Ein lukratives Geschäft, weil man Schulden aus einer Hypothek abzahlen wollte, wie sie in einem Fernsehinterview zugaben.

Verkauf von Erotik Der (wenn auch nur geplante) professionelle Verkauf von Erotik und Sexualität beziehungsweise der professionelle Umgang damit - liegt hier vielleicht doch ein Erziehungsnotstand vor? Hat das Kind etwas nachgeahmt? Vielleicht wurden bei Raoul tatsächlich emotionale Voraussetzungen für die ihm zur Last gelegte Tat geschaffen, auch wenn er nie eine erotische Internet-Seite zu Gesicht bekommen hat. Kinder empfangen oft Mitteilungen, sagen Fachleute. Sie kriegen Dinge mit, auch wenn sie gar nicht voll in eine bestimmte Sache eintauchen. Aber sie bekommen gewissermaßen eine Art "Orientierung" für spätere Handlungen.

Ein negativer Schatten liegt also auch auf der Familie selbst - in den letzten Tagen sahen sie sich von einem Augenblick auf den anderen auch als Täter, nicht nur als Opfer. Auf einmal hatten sie selbst Erklärungsbedarf. Sind da doch noch Leichen im Keller der Familie, fragten die Medien? Oder sind das nur Ablenkungsmanöver der US-Behörden, um sich reinzuwaschen angesichts des Proteststurmes aus dem Ausland?

Wir werden mehr wissen in den nächsten Tagen und Wochen ...

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