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„Halbstark" unterm Titusbogen

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Ein Kliniker von Weltruf, Professor Nicola Pende, hat das Halbstarkenproblem in Italien vom medizinischen Standpunkt aus untersucht, und ist zu dem Schluß gekommen, daß neue Gesetze notwendig wären, um eine moralische Gesundung der Familie herbeizuführen. Eltern, die ihre Kinder sich selbst überlassen, daher für deren Abweichen vom rechten Wege mitverantwortlich sind, müßten vor Gericht gestellt werden können. Wenn dieser Vorschlag ernsthaft in Betracht gezogen werden sollte — und die außerordentliche Zunahme der Jugendkriminalität in Italien läßt eine derartige Möglichkeit nicht absurd erscheinen —, so würde dies ein bemerkenswertes Abgehen von den bisherigen Prinzipien der italienischen Rechtspflege bedeuten.

Bis zum Jahre 1959 hat Italien warten dürfen, bevor es von der Epidemie heimgesucht wurde, die andernorts unter dem Namen Halbstarke, teddy boys, blousons noirs, huligan bekannt ist. Dafür ist die Seuche explosionsartig zum Ausbruch gekommen, so plötzlich, wie geile Triebe aufschießen, so überraschend, daß zunächst nicht einmal ein italienischer Name für die Erscheinung zur Verfügung stand; man hielt sich daher an den Ausdruck teddy boys. Jugendkriminalität hat es natürlich immer gegeben, von Dummen- Jungen-Streichen haben die Zeitungen auch früher berichtet. Nun aber hatte man es mit einem organisierten Bandentum zu tun. Ganze Stadtteile wurden terrorisiert, einige schauerliche Bluttaten, deren hervorstechendstes Merkmal die Feigheit und Bestialität waren, mit denen sie ausgeführt wurden, haben die Oeffentlichkeit aufgerührt. Fast immer hatten sie einen sexuellen Hintergrund oder sie zeigten bloße Zerstörungswut, den einfachen Willen zur Vernichtung von Leben und Dingen.

Es ist ein böses Erwachen. Die Italiener haben eine Illusion aufgeben müssen, jene, daß ihre Jugend, durch den Zusammenhalt der Familie und den Einfluß der Kirche moralisch gestützt, gegen den Bazillus immun sei. Im ersten Schock rief man nur nach Unterdrückung und sprach von öffentlicher Auspeitschung. Erst nachher stellte man sich die Frage nach den Ursachen der kollektiven Verirrung der Jugend. Unversehens sieht sich die Familie auf der Anklagebank. Es spielt sich ein seltsamer Prozeß ab: die Eltern sind Angeklagte und Kläger zugleich, nicht die Kinder bezichtigen die Eltern, sondern diese üben eine Art Selbstkritik. Die Anklagerede hielt der christlichdemokratische Abgeordnete Breganze als Referent zum Budget des Justizministeriums. Er führt das neue Phänomen der Halbstarken in Italien auf die Unverantwortlichkeit der Eltern zurück und verlangt das Eingreifen des Staates, „um die Einheit und Würde der Familie wiederherzustellen“. Der Justizminister Guido Gonelia, ebenfalls Christ- lichdemokrat, behauptet gleichfalls, daß die teddy boys die natürliche Frucht pflichtvergessener Familien seien, wo die erzieherische Funktion nicht mehr ausgeübt wird. Auch auf einer Tagung im Cini-Institut in Venedig steht die Familie als Hauptangeklagter vor Gericht. Der berühmte Rechtswissenschaftler Carnelutti stellt die Dinge geradezu auf den Kopf, wenn er bemerkt, die Halbstarken seien gar nicht die Angreifer, sondern Angegriffene.

Die italienische Familie — gemeint ist die kleinbürgerliche städtische Standardfamilie, denn in der aristokratischen Oberschicht Roms und im ländlichen Unterproletariat des Südens gelten besondere Maßstäbe — entspricht nicht mehr den herkömmlichen Vorstellungen, die wieder oft idyllischen Oeldrucken glichen. Gewiß ist den Italienern, wie allen lateinischen Völkern, ein stärkeres Festhalten am Familienverband eigen; daß die Kinder mit den Eltern und diese im Hause der Kinder weiterwohnen, ist eine allgemeine Erscheinung. Nur darf dabei nicht übersehen werden, wie sehr dies auch einer sozialen Notwendigkeit entspringt. Wenn die Durchschnittsfamilie in Italien zumindest nach dem äußeren Anschein (Kleidung, Sonntagsausflüge, Motorisierung, Vergnügungen) verhältnismäßig gut leben kann, so ist das auf das Zusammenleben und das Zusammenlegen mehrerer Einkommen in einen gemeinsamen Topf zurückzuführen. Aber wie überall, so ist die Familie auch in Italien einem raschen Umwandlungsprozeß unterworfen. Er vollzieht sich hier sogar noch rascher als anderswo, weil Italien aus einer Feudalordnung direkt in eine weitgehend sozialisierte gesprungen ist. Der Einbruch der modernen materiellen Zivilisation nach dem letzten Kriege ist in seinen äußeren Erscheinungsformen jedem, auch dem eiligsten Touristen geläufig geworden.

Der Mensch wird sich selbst entzogen und bewegt sich in einem frenetischen Lebenskreis, ohne Muße zu finden für ein Buch oder einen Gedanken an sich selbst. Man erinnert sich hier an den Film des Franzosen Tati „Mein Onkel": der kleine Junge in dem hochmechanisierten Hause wäre ein potentieller teddy boy, wenn ihn nicht die schrullige Unmodernität des Onkels davor bewahrte. Man will in Italien den Eltern die Schuld an dem Ansteigen der Jugendkriminalität geben. Einverstanden. Aber die Eltern können eben den Kindern nicht mehr geben, als sie selbst 'hüben. ' Jsfdst' ein circülus vitiosus.

Die Krise der Familie äußert sich in Italien auch noch in anderer Hinsicht: in dem rapiden Absinken der beruflichen Tradition. Das ideale Erbe, von Vater auf Sohn fortgepflanzt, ist verbraucht. Die Söhne folgen nicht mehr dem Gewerbe oder Handwerk des Vaters. Der soziale Fortschritt hat bewirkt, daß auch den Aermeren die höheren Schulen offen stehen. Zwischen dem Sohn-Doktor und dem Vater-Arbeiter steht die Verschiedenheit der Bildungsebene und bewirkt eine Lockerung der persönlichen Kontakte. Gelockert sind aber auch die Beziehungen zwischen den Ehegatten. Mit der einstigen Abhängigkeit der Frau vom Mann ist es auch in Italien vorbei. Im Kriege hat sie gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Die Gleichstellung ist weitgehend erreicht: nur Dipiomatin kann die Frau in Italien noch nicht werden, auch nicht Schiffskapitän und Gemeindesekretär. Die höheren Verwaltungsstellen der Staatseisenbahnen und die Posten in der Bank von Neapel und in der von Sizilien sowie der des Präsidenten des Hafenkonsortiums in Genua sind ihr versperrt. Das ist aber auch alles. Mit der sozialen Gleichstellung verlangt die Frau auch die individuelle Freiheit. Das Konkordat mit dem Heiligen Stuhl verbietet nach wie vor die Scheidung. Aber die gerichtlich ausgesprochenen Trennungen der Ehegatten sind in rascher Zunahme begriffen. Da eine Wiederverheiratung für beide Teile unmöglich ist, nimmt auch die Zahl der zweideutigen Verbindungen zu, nicht zum Vorteil der Kinder.

Nicht alle freilich teilen die uneingeschränkte Anklage gegen die Familie. Auf der Tagung im Cini-Institut fehlte es auch nicht an Verteidigern. Gerade von seiten eines Kirchenrechtlers, den man politisch als „unabhängigen Linkskatholiken" bezeichnen müßte, von Arturo Carlo Jemolo, kommt die Meinung, die Familie sei heute so gesund oder so krank wie sie es immer gewesen ist, gestern und in allen Zeiten. Wie weit darf also die epidemische Welle des Halb- starkentums, die Italien im Jahre 1959 erreicht hat, zu einer verallgemeinernden Anschuldigung der Familie führen? Es gibt, wie gesagt, Leute, welche die Existenz einer Krise überhaupt leugnen. Es wird wohl so sein, daß die Veränderungen in der Familienstruktur und die Wandlungen im Familiengeist nicht ohne weiteres als Krise interpretiert werden dürfen. Aber dort, wo es Jugend in Krise gibt, weist diese unweigerlich auch auf eine Krise der Familie hin.

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