Kreuzzug gegen Kinder Amerikas

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Weil ein Zehnjähriger vielleicht seiner Sexualneugier freien Lauf gelassen hat, schickt ihn die amerikanische Justiz seit Wochen durch die Hölle.

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Weil ein Zehnjähriger vielleicht seiner Sexualneugier freien Lauf gelassen hat, schickt ihn die amerikanische Justiz seit Wochen durch die Hölle.

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Drei Monate befassen sich Sozialarbeiter mit dem Fall. Dann wird entschieden, Raoul zu verhaften. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft rechtfertigt das mit den Worten: "Wir müssen die Gesellschaft vor solchen Menschen schützen!" Schließlich diene die Vorgangsweise auch dem Wohle des Buben - man wolle ihn doch auch wieder auf den rechten Weg zurückbringen. Die Frage ist nur, ob das Kind nicht schon vorher körperlich und seelisch zerbricht ...

Noch ist nicht klar, was wirklich an jenem Tag im Mai im Garten der Familie Wüthrich passiert ist. Ob das fünfjährige Mädchen tatsächlich sexuell mißbraucht wurde, indem der (damals) zehnjährige Bruder seine entblößten Genitalien an ihr rieb und andere Handlungen vornahm, wie das die Nachbarin ganz genau gesehen haben will. Oder ob es nur ein "Küssli" auf den nackten Popo mit ein bißchen "Dökterlispiel" war, wie das Schweizer Medien darstellen. Vielleicht war es auch nur die Neugier eines Buben auf das andere Geschlecht ("Der Spiegel" nennt es "Forscherdrang"). Oder ist damals in Wirklichkeit überhaupt nichts vorgefallen, wie der Vater der Kinder, ein in die USA ausgewanderter Schweizer, immer wieder betont: Der Kleine habe seiner Schwester nur beim Pipi-Machen geholfen, "so wie der Papi das auch macht". Man verstehe das brutale Vorgehen der US-Behörden überhaupt nicht.

In wenigen Tagen wird man mehr wissen, wenn die Verhandlung in diesem spektakulären Fall beginnt und er wieder im Mittelpunkt des (Medien-)Interesses steht - der strohblonde, schmächtige, mittlerweile elfjährige Raoul, dessen Leidensweg die Emotionen hochgehen läßt. Nicht nur in der Schweiz. Dort gibt es zwar seit geraumer Zeit bestimmte Sensibilitäten gegenüber der amerikanischen Justiz. Die Sammelklagen der Holocaust-Opfer gegen Schweizer Banken und die Milliarden-Entschädigungsforderungen der Opfer des Swissair-Absturzes haben für einigen Unmut bei den Eidgenossen gesorgt.

Doch die Proteste sind nicht nur auf dieses Land beschränkt: Die Behandlung von Kindern durch amerikanische Amtsinstanzen stößt generell in unseren Breiten auf totales Unverständnis. Von rüden Cowboy-Methoden, Skandal-Justiz und mittelalterlicher Hexenvefolgung ist die Rede.

Zur Erinnerung: Wochen nach der Anzeige der Nachbarin, die alles ganz genau beobachtet haben will, wird Raoul in der Nacht handstreichartig aus dem Bett gezerrt und verhaftet. Barfuß, in Handschellen und nur in eine Decke gewickelt, schafft man ihn ins nächste Jugendgefängnis. Doch statt sich wenigstens um eine rasche Aufklärung nach dieser exzessiven Vorgangsweise zu bemühen, schickt man das Kind durch eine emotionale Hölle: wochenlang sitzt es im Jugendgefängnis, zusammen mit anderen, denen ganz andere Delikte wie Raub, Diebstahl oder Vergewaltigung zur Last gelegt werden. Umgeben von meterhohen Zäunen, elektronischen Sperranlagen, Überwachungskameras und martialisch bewaffneten Wachen darf der Elfjährige über seine "Schuld" grübeln, und daß er wohl etwas "sehr Böses" getan haben muß. Als er der Richterin vorgeführt wird, trägt Raoul außer Handschellen auch Fußfesseln - wie Schwerverbrecher.

Kinder vor Gericht sind in den USA keine Seltenheit. Strafen und Einsperren wird dort seit geraumer Zeit als die effektivste Form gesehen, der gestiegenen Kinder- und Jugendkriminalität Herr zu werden. Verschärfte Gesetze werden gnadenlos auch an Kindern und Jugendlichen exekutiert. Wer wie ein Erwachsener Verbrechen begeht, muß auch wie ein solcher bestraft werden. Das Alter spielt keine Rolle. Es gibt keine jugendlichen Verdächtigen oder Täter mehr, die ihrem Alter entsprechend einer besonderen Behandlung bedürfen.

"Zero tolerance" nennt sich die harte Welle, auf der die USA seit geraumer Zeit reiten. Keine Toleranz mehr - auch nicht gegenüber straffällig gewordenen oder nur verdächtig gewordenen Kindern und Jugendlichen. Vergeltung, Bestrafung, Strenge, Härte, Unbeugsamkeit heißt die Devise. Die berüchtigen Camps, in denen die Jugendlichen gebrochen werden sollen, sind immer wieder auch im hiesigen Fernsehen zu sehen. Der Erfolg solcher drakonischer Maßnahmen ist nicht unumstritten. Aber - die Kriminalität sinkt, und das scheint den Hardlinern recht zu geben.

Im Fall Raoul kommt noch etwas hinzu: Im Jefferson County, wo das Kind verhaftet wurde, liegt Littleton. Der Ort sah sich vor einigen Monaten mit mordenden Schulkindern konfrontiert und seither herrscht Angst. Man will Schutz vor solchen kleinen Monstern. Monatelang hatten damals zwei Halbwüchsige ein Massaker in allen Details angekündigt. Doch niemand griff ein.

Seither fühlt sich die Polizei unter Druck - wer nur den leisesten Anflug von "Abnormität" zeigt, spürt sofort die Faust des Staates im Nacken. So wie Raoul. Daß man dabei ganz offensichtlich gewaltig übers Ziel schießt, geben auch US-Juristen zu.

Amerika ist in vielerlei Hinsicht eine interessante Nation und Supermacht. Aber sie ist nicht jene "great society", als die sie sich immer gerne selber sieht. Das beweist sie gerade wieder mit dieser brutal-entwürdigenden Behandlung eines elfjährigen Kindes.

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