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Hatte Melvin wirklich keine Chance?

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Das Martyrium und der Tod des kleinen Melvin erschüttert ganz Österreich. Entsetzen herrscht vor allen darüber, daß ein Kind - obwohl die Bürokratie bereits eingeschaltet war - gequält, mißhandelt und auf elende Weise sterben mußte.

Wie bekannt, erlag der Kleine am 12. Jänner im Preyer'schen Kinderspital den schweren Brandverletzungen, die ihm drei Tage zuvor zugefügt worden waren. Der Lebensgefährte von Melvins Mutter gab an, den Kleinen „zu heiß gebadet zu haben“, weil er in die Hose gemacht habe. Die Arzte stellten zudem zahlreiche Blutergüsse am Hals und im

Nacken des toten Kindes fest. In der Woche davor war Melvin in einem anderen Wiener Spital wegen Verdachtes auf Schädelbruch behandelt worden. Damals war eine Anzeige jedoch ausgeblieben.

Melvins leiblicher Vater und die Großmutter des Kindes hatten die Behörden bereits mehrere Male darauf aufmerksam gemacht, daß der Bub möglicherweise mißhandelt werde. Aus dem Büro von Wiens Stadträtin Grete Laska hörte man hingegen, daß sich der Vater im Dezember 1996 lediglich über sein Besuchsrecht bei Melvin erkundigt hätte. Auch Melvins Mutter kannte man von früher. Ihr sei es um finanzielle Hilfe für eine Gemeindewohnung gegangen.

Am 8. Jänner schließlich kam ein Anruf von Melvins Großmutter, daß der zweijährige Enkel mit Schädelbruch im Wilhelminenspital liege. Das Jugendamt kontaktierte daraufhin die zuständige Sozialarbeiterin. Ihr wurde von Melvins Mutter jedoch glaubhaft gemacht, daß der Sohn vom Stockbett gefallen sei. Das Stockbett sei in der Zwischenzeit verheizt worden und daher unauffindbar. Bathausintern wird nun geprüft, ob sich die von der Klinik verständigte Sozialarbeiterin mit einer solchen Aussage hätte zufriedengeben dürfen.

Angeblich existieren auch Fotos bei den Großeltern, auf denen „alte“ Beinverletzungen ihres Enkels zu sehen sind. Diese Bilder seien der Hausärztin gezeigt worden. Diese habe jedoch nur „mit den Schultern gezuckt“. Ebenfalls mit einem Schulterzucken hätte das Jugendamt Hernais auf die Mitteilung von Vater Oliver reagiert, als dieser von einem großen blauen Fleck in Melvins Gesicht berichten wollte, den er bereits am 18; Dezember, anläßlich eines Kurzbesuches seiner Frau und deren Lebensgefährten festgestellt hatte.

Auch im Kindergarten wurden mehrmals Verletzungen an Melvin festgestellt. In solchen Fällen ist es üb -lieh, daß ein Psychologe eingeschaltet wird. Der Termin dafür war für die Zeit nach Weihnachten (ü) angesetzt.

Verzögerungen, fehlende Hausbesuche, zu viele Stellen die involviert wurden, sodaß die Informationen sehr breit gestreut waren, das Dazwischenkommen der Weihnachtsfeiertage ... all das hat ein lebensrettendes Eingreifen der Behörden verhindert und zu dieser dramatischen Wende geführt.

Und noch eine Frage drängt sich auf: hätte das Ärgste nicht auch verhindert werden können, wenn es eine funktionierende Regelung des Besuchsrechtes des leiblichen Vaters, ein gemeinsames Sorgerecht beider Elternteile gegeben hätte? Eines gemeinsamen Sorgerechtes, wie es derzeit nur diskutiert wird?

Regelmäßige Besuche des Kindesvaters hätten eine derart massive Brutalität des Lebensgefährten seiner Frau vielleicht gar nicht erst entstehen lassen ...

Ein Drittel aller in den letzten zehn Jahren geschlossenen Ehen wird in Österreich wieder geschieden. In, Wien sind es sogar mehr als 50 Prozent. Über 14.000 Kinder unter 19 Jahren wurden 1994 dadurch zu sogenannten Scheidungswaisen. 90 Prozent der Kinder werden im Falle der Scheidung der Mutter zugesprochen. Sie verfügt über das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Anders als in vielen anderen Staaten gibt es zur Zeit in Österreich noch kein gemeinsames Sorgerecht für beide Elternteile.

Fast jedes Kind zeigt unmittelbare Reaktionen auf die Trennung der Eltern. In einer Untersuchung (Napp-Peters 1988) wurde festgestellt, daß jedes dritte Kind an Trennungs ängsten, Depressionen und Schuldgefühlen leidet. Jedes zehnte Kind zeigt aggressives Verhalten, jedes fünfte reagiert mit psychosomatischen Störungen wie Bauchweh, Kopfweh oder Schlafstörungen.

Die Probleme der Kinder sind altersspezifisch. Kinder im Babyalter und sehr kleine Kinder zeigen kaum Scheidungssymptome. Bei Zwei- bis Dreijährigen kann eine Trennung der Eltern zu Verhaltensauffälligkeiten wie Bettnässen oder Stottern führen. Besonders in der Vorpubertät und für Vier- bis Sechsjährige kann eine Trennung große Probleme verursachen.

Eine Studie des Münchner Pädagogen Wassilios Fthenakis ergab, daß noch zirka 20 Monate nach einer Scheidung 15 Prozent der Eltern beträchtlich oder extreme Schwierigkeiten hinsichtlich der Besuchs- und Sorgerechtsregelung haben. 20 Prozent der geschiedenen Eltern glauben, daß sie überhaupt nicht oder nur wenig im Hinblick auf die Kinder mit ihrem Partner kooperieren können.

Justizminister Michalek kann sich eine gesetzliche Verankerung der „gemeinsamen Obsorge“ der Eltern für ihre Kinder nach der Scheidung absolut vorstellen. Derzeit wird ja die „Obsorge“ zwingend einem Elternteil nach der Scheidung zugesprochen. Im Falle des kleinen Melvin hat sich das als äußerst verhängnisvoll erwiesen. Zur Zeit ist ein einvernehmliches Vorgehen der Eltern nur dann möglich, wenn ein Elternteil dem anderen Vertretungsbefugnisse einräumt. Der Minister kann sich eine „gemeinsame Obsorge“ per Gesetz in all jenen Fällen vorstellen, in denen die Eltern nicht wie „Hund und Katz zerstritten“ seien. , Beim gemeinsamen Sorgerecht gibt es zur Zeit zwei Denkschulen: Die eine betont, daß Kinder noch mehr zum Spielball der Eltern werden könnten, die andere hebt hervor, daß die geltende Rechtslage die Beziehung der Kinder zu beiden Elternteilen empfindlich störe.

Was bedeutet das für den Fall Melvin? Dazu heißt es aus dem Büro Minister Michalek: „Hätte der Vater des Kindes sein Recht auf Kontakt zu seinem Kind durchgesetzt, so hätte das Böse sicher beschränkt werden können. Im gesamten familienrechtlichen Verfahren ist aber dieses Recht auf Kontakt am schwierigsten. Viele Väter klagen ja auch, daß sie sehr wohl ein gerichtliches Besuchsrecht Hättet, dieses aber nicht durchsetzen können. Im Falle Melvin sind sicher Verkettungen' wie das Hineinfallen der Weihnachtsfeiertage passiert. Eine gute Sozialarbeiterin hätte die psychischen und sonstigen Irritationen merken müssen. Solange wir aber den Sachverhalt nicht genau kennen, darf niemand verur-teilt werden. Pauschal zu sagen: ,Das Jugendamt hat versagt', ist sicherlich gefährlich. Eine falsche He richterstattung kann in einer so sensiblen Materie wie es das Kindschaftsrecht ist, sehr viel Schaden anrichten. Man darf auch nicht vergessen, daß die Verschwiegenheitspflicht sowohl den Jugendwohlfahrtsträger als auch die Familien betrifft. Die Jugend-Wohlfahrt ist im Hinblick auf den Schutz der Familien als auch gegenüber seiner Informanten sehr eingeschränkt. Die Vertraulichkeit der Informationen als auch der Familien ist immer zu bewahren. Daher sollte man auch mit der Skandalisierung von Dingen vorsichtig sein, um das subtile Verhältnis zwischen Bevölkerung und Jugendwohlfahrtsträger nicht zu gefährden. Wenn es heute heißt: ,Das Jugendamt hat gezögert', so vergißt man, daß es den Auftrag gibt, ein Kind womöglich nicht gleich aus der Familie zu reißen. Die Familie ist ein Bereich, der durch Grundrechte geschützt ist. Für die Jugendwohlfahrt ist es immer sehr schwierig herauszufinden: ,Was passiert in dieser Familie wirklich?'“

Soweit das Statement aus dem Justizministerium.

Dürfen Ärzte Richter spielen? fragte die Ft'rche den Familienrechtler Michael Stormann: „Sie sind nach dem Ärztegesetz verpflichtet, Verletzungen, bei denen strafrechtlich relevantes Fremdverschulden deutlich wird, den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen. Im übrigen haben Ärzte Schweigepflicht, das heißt, daß eine Information des Jugendwohlfahrtsträgers für sie rechtlich problematisch ist. Dieser Problemkreis ist uns bekannt. Hier gibt es Lösungsversuche im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Jugendwohlfahrtspflege. Ich vermute, daß Ärzte, die mit Unfallversorgung zu tun haben, nicht die medizinischen Kenntnisse besitzen, um Fremdverschulden immer eindeutig festzustellen. Sie haben andere Aufgaben zu bewältigen.“

Das Büro von Familienminister Bartenstein will den Fall Melvin ebenfalls eingehend prüfen und genaue Informationen abwarten. Für das Ministerbüro ist es aber bere'its heute klar, daß es hier zu einer Überforderung der Mitarbeiter im Jugendamt gekommen ist. Supervision der Mitarbeiter von Jugendämtern ist eine der Forderungen, die in diesem Zusammenhang mit Nachdruck wiederholt wird.

Eine effiziente Hilfe wird auch von einem im Herbst 1996 gestarteten Pilotprojekt erwartet, das eine Vernetzung von Ärzten und Spitälern mit einer gemeinsamen Zentralstelle vorsieht. Wenn im mjt men reren Verletzungen in mehreren Spitälern behandelt wird, kann ein Verdachtsmoment durch eine solche Zentralstelle deutlich werden.

Probleme sieht das Familienministerium in diesem Zusammenhang mit den Anforderungen des Datenschutzes. Zu diesem Projekt gab es bereits eine konstituierende Sitzung mit Ärzten und fünf Spitälern, eine Machbarkeitsstudie ist abgeschlossen.

Die Grundidee einer Zusammenschau von Daten als Indiz für Fälle, bei denen es sich nicht um eindeutige Unfälle handelt, wird allgemein positiv bewertet. Verdächtige Fälle könnten dann überprüft und der Kontakt zum Jugendamt hergestellt werden. Minister Bartenstein überlegt in diesem Zusammenhang, ob nicht Novellierungen im Jugendwohlfahrtsgesetz des Bundes nötig sind, um eine Vernetzung von Daten zu gewährleisten.

Auch wenn Kinder heute im Bah-men des „Gesetzes gegen Gewalt in der Familie“ einstweilige Verfügungen erwirken können (das ist theoretisch ab dem Kindergartenalter möglich), sind Babies sehr gefährdet, weil sie von dieser Möglichkeit natürlich keinen Gebrauch machen können. Auch könne man nicht in jede Wohnung eine Video-Kamera installieren, die Wahrung der Privatsphäre ist auch durch die Menschenrechtskonvention geschützt.

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