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Ein Kind aufnehmen...?

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Der kleine Thomas, fünf Jahre alt, konnte noch kein Wort sprechen. Er galt als schwer behindertes Kind. Elisabeth Huber, eine alleinstehende, geschiedene Frau, nahm ihn als Pflegekind zu zwei anderen dazu. Regelmäßig besuchte sie mit ihm den Sprachpädagogen, gab ihm Nestwärme, ihre mütterliche Fürsorge und Geschwister. Nach einem Jahr konnte der Bub sprechen, heute besucht er mit gutem Erfolg die normale Volksschule. Seine Behinderung durch einen langen Aufenthalt im Kinderheim hat sich weitgehend gegeben.

Renate wiederum war seelisch so gestört, daß sie mit vier Jahren einfach nicht lachen konnte, auch intelligenzmäßig war sie weit zurückgeblieben. Zwanzigmal hatte sie in vier Jahren den Pflegeplatz gewechselt Wie eine Pflanie, die man nicht in Ruhe läßt, an einem Ort Wurzeln zu schlagen. Aber schon nach einem Jahr bei einer liebevollen Pflegemutter hat sich ihr Zustand wesentlich gebessert. Doch die Puppe trägt sie noch immer nicht wie ein normales Kind im Arm, sondern stets körperfern. Renate hat zuvor nie die Hautnähe einer Mutter erfahren. Manche Schäden bleiben irreparabel.

Eine Frau betreut vier Pflegekinder. Ein großer Junge hat bereits die Matura bestanden. Statt ihm hat sie nun ein sozial sehr schwieriges Kind angenommen. Der Bub ist sehr aggressiv und braucht unendlich viel Liebe und Geduld. Er mußte die Schule wechseln und manchmal muß er nach zwei Stunden nach Hause geholt werden. In Zusammenarbeit mit einer heilpädagogischen Therapie wächst er langsam in ein normales Schulleben. Sein Vater sitzt im Gefängnis. Die Pflegemutter aber hat nicht gefragt, woher er kommt, wieviele Probleme sie sich mit einem verhaltensgestörten Kind aufladet. Er braucht ganz offensichtlich eine Bezugsperson, sprich Mutter.

Derzeit sind etwa 1800 Kinder in Wien in Heimen untergebracht. Die schönsten und besten Kinderheime aber können keine Familie oder Pflegemutter ersetzen. Es ist noch viel zu wenig bekannt, daß Heimkinder im Durchschnitt einen wesentlich niedrigeren Intelligenzquotienten aufweisen als Gleichaltrige, die in einer Familie aufwachsen. Wohl kann die Schule später etwas aufholen, doch die seelischen Störungen bleiben ein Leben lang.

„Sie quittierte ihren Dienst als Schwester und nahm drei Pflegekinder“

Eine Säuglingsschwester, selbst wenn ihr genügend Helferinnen zur Seite stehen, kann mit bestem Willen nicht sechs oder acht Babies genug Zuneigung schenken, um den ständigen Wechsel von einer Person zur anderen auszugleichen. Durch den Schichtbetrieb in einem Heim hat das Kind einfach nicht die Möglichkeit, sich auf eine Bezugsperson einzustellen. Das hat Inge Buchinger erkannt. Sie quittierte ihren Dienst als Schwester und nahm drei Pflegekinder, um mit ihrer Arbeit einen „positiven Beitrag zu leisten“, wie sie sagt.

Das erste Lebensjahr ist besonders ausschlaggebend. Untersuchungen an der Münchner Universität ergaben, daß die kritische Periode zwischen dem sechsten und zehnten Monat eintritt, wenn sich die Beziehung zur Muster allmählich entwik-kelt. Fehlen oder auch nur ein Zuwenig an mütterlicher Liebe und Pflege verhindern oder erschweren das Entstehen des sogenannten Urvertrau-ens beim Baby. Dadurch wird seine gesamte Entwicklung behindert und es besteht die Gefahr einer Dauerschädigung, vor allem im Bereich der Liebesfähigkeit sowie der späteren Gewissens- und Willensbildung.

Nur an den im Lauf der Zeit auftretenden psychischen Schäden, an den Reaktionen kann man ermessen, was einem Menschen angetan wird, wenn

er als Kind die mütterliche Liebe entbehren muß. Professor Franz Sei-telberger vom Neurologischen Institut in Wien sagt, der Mensch, der keine Mutterliebe erfährt, bleibe in der Affektlage eines Zweijährigen. Später kommt es zum Scheitern im Berufsleben, als Ehepartner und als Elternteil. Ein Großteil der Gefängnisse könnte zugesperrt, die Kriminalität auf ein Mindestmaß reduziert werden, hätten wir für alle Säuglinge und Kleinkinder liebevolle Mütter oder Pflegemütter. In Niederösterreich funktioniert

die Vergabe der Pflegekinder bereits seit zehn Jahren so gut, daß fast jeder Säugling statt in ein Heim sofort in eine Familie aufgenommen werden kann, sagt Frau Jugendoberamtsrat Johanna Urban. Auch Kinder aus Wien werden von niederösterreichischen Pflegeeltern übernommen.

In Wien ist das viel schwieriger. Viele Mütter und Elternpaare, die sich nicht imstande sehen, ihr Kind aufzuziehen, bringen es in die Kin-derübernahmsstelle der Gemeinde. Nur wenn die Eltern oder die Mutter ihre Einwilligung geben, können die Kinder Pflegefamilien anvertraut werden.

Auf Adoptiv- oder Pflegekinder warten viele Elternpaare jahrelang. Meist haben sie selbst keine Kinder. Wenn sich aber eine leibliche Mutter nicht ganz von ihrem Baby trennen will - oft hat sie die Hoffnung, eines

Tages selbst für ihr Kind sorgen zu können-, übergibt sie es lieber einem Heim der Gemeinde. Dort kann sie es auch zweimal im Monat besuchen. Wenn die Mutter einverstanden ist, sucht die Fürsorgerin einen Pflegeplatz. Wer aber nimmt ein Kind sozusagen auf Abruf, auf zwei Monate, ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch mehr? Meistens hat die leibliche Mutter ein starkes Schuldbewußtsein und möchte den Kontakt zu ihrem Kind nicht ganz verlieren.

Oft ist sie noch sehr jung, gar nicht imstande, ihr Baby aufzuziehen, sie

will es aber doch nicht ganz hergeben. Welche Pflegefamilie ist bereit, einen dieser „Risikosäuglinge“ anzunehmen und gleichzeitig die junge Mutter langsam mit ihrem Kind vertraut zu machen, ja sie geradezu ein-zubeziehen? Es ist dies ein reiner Dienst am Kind, um ihm ein Heim, Nestwärme zu geben, von Menschen, die das Kind nicht unbedingt behalten wollen. Dazu gehört ein ganz außerordentliches Maß an Selbstlosigkeit! Aber nur so kann der Teufelskreis unterbrochen werden, denn ein Heimkind wird wieder nur ein Heimkind haben, es hat selbst nie ein Familienleben kennengelernt.

Anderseits warten Geschwister oft jahrelang, weil man sie nicht auseinanderreißen will, auf eine Familie, die sie gemeinsam übernehmen kann und will.

Viele Kinder in den Heimen sind

behindert und können deshalb keinen Pflegeplatz bekommen. Ein kleiner Bub etwa trug wegen einer Luftröhrenverengung eine Kanüle. Jahrelang wurde für ihn ein Pflegeplatz gesucht, doch niemand fand sich bereit. Zu seiner leiblichen Behinderung kam dann noch die soziale Schädigung durch den langen Heimaufenthalt. Die Kinder warten mit großen, verlangenden Augen, wenn sie vorgeführt werden. Sie sind so liebebedürftig! Nichts ersehnen sie mehr als eine Mutter. „Wird sie mich nehmen?“ fragen schon die kleinen

Kinder. Sie wissen nicht um ihre Behinderung.

Professor Johannes Pechstein aus München sagt, daß auch ein leichtT gehirngeschädigtes Kind durch elterliche Liebe und Fürsorge unglaubliche Fortschritte machen, ja oft sogar den Schaden ganz ausgleichen kann. Wer aber wagt es, ein behindertes Kind zu sich zu nehmen? Nur eine Familie ist für so ein Kind der geeignete Lebensraum. Pechstein: „Üblicherweise wandern sie von Heim zu Heim und erleben ein kindheitslanges Schicksal mit ständig wechselndem Pflegepersonal in einer glashausartigen Umwelt. Eine mehrjährige Schädigung der Sozialentwicklung ist viel schwerer heilbar als die Folgen bestimmter leichterer organischer Schädigungen des Gehirns, wie etwa Störungen der Sprachentwick-

lung, spezielle Lern- und Bewegungsbehinderung und so fort.“

Da ist Brigitte, sechs Jahre alt. Sie hat eine Mißbildung der Haut. Ein Defekt, der sie zwar nicht behindert, aber seelisch schwer belastet. Darum haben ihre Eltern sie in ein Heim abgeschoben. Aber gerade so ein Kind würde die Geborgenheit in einer Liebe, die bereit ist, mit ihm sein schweres Leid zu tragen, benötigen. Ein Pflegeplatz war bis jetzt nicht zu fin-' den.

Für ein Pflegekind zahlt die Gemeinde Wien 1850 Schilling vierzehnmal im Jahr, dazu kommen noch die therapeutischen Behandlungen und einmal im Jahr ein Bekleidungszuschuß. Großfamilien (ab fünf Kinder) bekommen etwas mehr. Es ist nicht viel, wenn man bedenkt, daß ein Heimplatz auf sieben- bis zehntausend Schilling im Monat veranschlagt wird. Die Arbeit der Pflegemutter wird auch heute noch von der Gemeinde nicht-honoriert. Während die „Tagesmütter“ bezahlt und sozialversichert sind, bekommt die Pflegemutter für sich selbst keinen Groschen.

Die Pfarre Krim in Wien-Döbling hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch die „Initiative Pflegemutter“ möglichst viele Ehepaare, aber auch alleinstehende Frauen zu gewinnen, ein Kind zu sich zu nehmen. Bis jetzt hat sich herausgestellt, daß Menschen im gehobenen Arbeitermilieu am meisten Herz für Pflegekinder haben. Alle befaßten Stellen, Kaplan Pater Andreas Laun von der Pfarre Krim, Senatsrat Walter Prohaska vom Jugendamt sowie die beiden Hauptfürsorgerinnen der Kinder-übernahmsstelle der Gemeinde Wien, Erika Reznicek und Margot Matzner, sind sich darin einig, daß der so breite Mittelstand ebenfalls für diese Aufgabe zu mobilisieren sein müßte. Noch sind zuviele Kinder in Heimen und warten auf ein Familienleben. Gerade in dieser Bevölkerungsschichte aber hätten die Menschen eine besondere Qualifikation, solche Aufgaben zu übernehmen.

„Bei voller Anerkennung und Würdigung der Pflegemütter, die unentgeltlich aus rein ethischen Motiven Pflegekinder betreuen, muß das Vorurteil abgebaut werden, daß bezahlte Kinderpflege eine geringere moralische Motivation habe“

Die „Initiative Pflegemutter“ unterstützt derzeit aus privaten Spenden, gesponsert von einer Bank, finanziell zwei Pflegemütter, die je zwei Pflegekinder betreuen. Das Ziel dieser Aktionsgruppe ist aber nicht karitativ, sondern in erster Linie sozial und gesellschaftspolitisch motiviert. Bei voller Anerkennung und Würdigung der Pflegemütter, die unentgeltlich aus rein ethischen Motiven Pflegekinder betreuen, muß das Vorurteü abgebaut werden, daß bezahlte Kinderpflege eine geringere moralische Motivation habe. Die Qualifikation und alle persönlichen Voraussetzungen sollen den Maßstab bilden. Es gäbe auch in Wien eine große Anzahl von Familien und alleinstehenden Frauen, die diese Voraussetzung mitbrächten und gewillt wären, Kinder aufzunehmen. Auch der „Katholische Familienverband“ steht hinter dieser Aktionsgruppe. Jedes Kind, das in einer Familie Geborgenheit findet, und sei es selbst nur für einige Zeit, ist schon eine gewonnene Schlacht um ein positiv ausgerichtetes Menschenleben.

Nicht jede Familie, nicht jede alleinstehende Frau kann ein Pflegekind aufnehmen. Aber jeder kann, wenigstens durch einen Beitrag helfen, daß andere diese wichtige Aufgabe leisten. (Erste österreichische Spar-Casse, Konto 051-33680.) Die Behörden aber, Fürsorgerinnen und Vormundschaftsstellen, sollten, wenn keine eigene Familie vorhanden ist, mehr als bisher die Pflegemutter als zweitbeste Lösung anerkennen und nach diesem Prinzip handeln.

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